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Spektakuläre Film-Zeitreise auf großer Glaswand

By 20. Juni 2024No Comments

Der zehnte Jahrestag der Welterbe-Anerkennung Corveys am 21. Juni 2024 ist an sich schon ein Highlight. Was die kleine Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus ein Jahrzehnt nach Erhalt dieses großen Titels an den Start bringt, krönt den 2023 begonnenen museumsdidaktischen Eintritt des bedeutenden Klosterortes ins digitale Zeitalter: Auf einer 40 Quadratmeter großen gläsernen Wand zwischen Westwerk und barocker Abteikirche entfaltet sich in einem fesselnden Zehn-Minuten-Film das Jahrtausend der Mönche.

Das Jahrtausend der Mönche in großen Bildern: Für die Medien gab es jetzt eine Preview der Medieninstallation auf der Glaswand zwischen Westwerk und Abteikirche.

Das Jahrtausend der Mönche in großen Bildern: Für die Medien gab es jetzt eine Preview der Medieninstallation auf der Glaswand zwischen Westwerk und Abteikirche. Fotos: Sabine Robrecht

Diese Filmprojektion hat es in sich. Großes Kino, kann man nur sagen. Die Zuschauenden erleben die monastische Geschichte Corveys lehrreich und zugleich sinnenfreudig. Sie tauchen sogar regelrecht ein in das Leben der Benediktiner – sind hautnah dabei, wenn mit dem Bau des Westwerks begonnen wird (873), werden Teil der künstlerischen Produktivität im mittelalterlichen Skriptorium des Klosters und gehen mit Ansgar, dem Apostel des Nordens, bei seinen so erfolgreichen Missionsreisen im neunten Jahrhundert auf Tuchfühlung.

Aus dem Auge, aus dem Sinn

In der Nacht zum 16. Juli 1265 ging die Stadt Corvey (Rekonstruktion von Dr. Thomas Küntzel, Göttingen) bei einem gezielten Überfall in Flammen auf. Sie war aus einem Siedlungskern im Umfeld des 822 gegründeten Benediktinerklosters gewachsen. Der Brand ist Thema im Film.

In der Nacht zum 16. Juli 1265 ging die Stadt Corvey (Rekonstruktion von Dr. Thomas Küntzel, Göttingen) bei einem gezielten Überfall in Flammen auf. Sie war aus einem Siedlungskern im Umfeld des 822 gegründeten Benediktinerklosters gewachsen. Der Brand ist Thema im Film.

Die sagenhafte Sogwirkung dieser Medieninstallation geht nicht nur von den bildgewaltigen Szenen und der Raffinesse ihrer Dramaturgie samt spannend erzählten Erläuterungen aus, sondern auch von der Örtlichkeit des grandiosen Spektakels. Denn die Gäste stehen bei ihrer Zeitreise im Westwerk, dem eigentlichen Welterbe. Also im frühen Mittelalter. Zur barocken Triumphalarchitektur der ehemaligen Abteikirche fühlen sie sich nicht, wie sonst, direkt hingezogen. Die Sichtbeziehung zur prachtvollen Altartrias wird nämlich unterbrochen, sobald die Zeitreise beginnt. Per Knopfdruck wird die Glaswand für den Film zu 95 Prozent blickdicht geschaltet. Das geschieht in Sekundenschnelle. Genauso rasch ist der Barock nach seinem Verschwinden aus dem Auge, aus dem Sinn. Und stiehlt der Erdgeschosshalle des Westwerks in ihrer vergleichsweise dezenten, aber hochbedeutenden Architektur nicht mehr die Show. So muss der Raumeindruck damals gewesen sein, bis vor dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), als sich ein schlichter mittelalterlicher Kirchbau an die quadratische Erdgeschosshalle des Westwerks anschloss.

Die Intelligenz der Glaswand bringt also die Architektur des Mittelalters an Ort und Stelle neu zur Geltung. Außerdem dient sie als Projektionsfläche für den Film. Transparent geschaltet, erlaubt sie zwar den Durchblick, trennt aber trotzdem die Kirche als Ort des Gebets vom touristischen Betrieb. Multifunktional ist sie also – ersonnen vom ehemaligen Direktor des Diözesanmuseums Paderborn, Professor Dr. Christoph Stiegemann. Am christlichen Hochfest, das die Menschen beflügeln soll, Pfingsten, hatte der renommierte Kunsthistoriker und Leiter des wissenschaftlichen Kompetenzteams zur didaktischen Erschließung des Westwerks im Jahr 2016 die Idee für diesen grandiosen Coup.

Gut Ding will aber Weile haben in einem so hochrangigen Baudenkmal wie Corvey. Abgestimmt mit der Denkmalpflege, erfüllen die Glaswand samt zugehöriger Technik und auch die seit 2023 laufende virtuelle Renaissance der karolingischen Ausgestaltung des Johanneschores mithilfe einer Augmented-Reality-App zwei entscheidende Voraussetzungen: Die Maßnahmen sind reversibel und berühren in keiner Weise die empfindliche karolingische Bausubstanz, die Corvey zum Welterbe adelt.

Hightech trifft Historie

Corveys Aufbruch ins digitale Zeitalter und die bevorstehende Sonderausstellung in Paderborn erfreut die Beteiligten.

Corveys Aufbruch ins digitale Zeitalter und die bevorstehende Sonderausstellung in Paderborn erfreut die Beteiligten.

Bei einer Pressekonferenz mit großem Medienaufgebot feierte die fulminante Filmprojektion jetzt Premiere. „Perfectum est (es ist geschafft)“, griff Ideengeber Professor Stiegemann angesichts der immensen Vorlaufzeit den Ausruf der Menschen am Ende des langen Wegs zur Welterbe-Anerkennung 2014 auf. Das bedeutende Kulturdenkmal am Weserstrand angemessen und auch emotional anregend zu erschließen, dieses Ziel sei jetzt erreicht. „Es gab kein Projekt, mit dem ich mich so lange und intensiv beschäftigt habe“, blickt der Wissenschaftler auf die Jahrzehnte seiner Berufslaufbahn zurück. „Jetzt bin ich überglücklich, dass es zu einem so guten Ende gekommen ist.“

Von Juli an können Gruppen im Rahmen von Führungen den großartigen Film auf einer fünf Meter hohen und acht Meter breiten Fläche erleben. Aufgespielt wird er von der Kirche aus über vier Projektoren.

Hightech trifft Historie: Der Arbeitstitel der multimedialen Erschließung des Westwerks kommt Betrachtenden jetzt nach der Realisierung als treffend in den Sinn. Realisiert wurde die multimediale Inszenierung von der Berliner Agentur Tamschick Media + Space GmbH.  Professor Stiegemann hat das Skript erstellt. Er dankte der Standortleitung für das Westwerk und die Abteikirche, Annika Pröbe. Sie hat zur Vorbereitung und Umsetzung der innovationskräftigen didaktischen Neuerungen maßgeblich beigetragen. Beim Architekten der Kirchengemeinde, Albert Henne, war der Einbau der Glaswand in besten Händen.

Eine neue Zeit bricht an

„Im Zusammenwirken mit dem Denkmalschutz ist uns in den zurückliegenden zehn Jahren viel gelungen“, blickte Kirchenvorstand Josef Kowalski mit Verweis auf die Tablet-Führungen im Johanneschor, die Filmprojektion im Erdgeschoss und die laufenden Arbeiten zur barrierefreien Erschließung der Emporenkirche im Obergeschoss auf das Erreichte seit der Welterbe-Anerkennung zurück. „Eine neue Zeit bricht an“, konstatierte Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek. Er stellte die digitalen Angebote in den Kontext der Innovationskraft, die in den 1200 Jahren seit Gründung des Klosters immer wieder von Corvey ausgegangen ist.

Standortleitung Annika Pröbe gewährt Einblicke in die restauratorisch-konservatorischen Erfordernisse.

Standortleitung Annika Pröbe gewährt Einblicke in die restauratorisch-konservatorischen Erfordernisse.

Die zeitgemäße didaktische Erschließung ist das eine, der Gebäudeerhalt das andere: „Wir arbeiten seit 2014 zweigleisig“, berichtete Standortleitung Annika Pröbe. Als ein Beispiel nannte sie die permanent erforderlichen restauratorisch-konservatorischen Maßnahmen zum Erhalt der karolingischen Wandmalereien. In dieser wichtigen Frage arbeitet sie ebenso wie bei der weiteren Erforschung mit einem interdisziplinären Team zusammen.

Sonderausstellung in Paderborn

Eine gedeihliche Verbundenheit pflegt das Corvey-Team auch mit dem Diözesanmuseum Paderborn. Dort ist eine großartige Sonderausstellung in Vorbereitung, die Direktor Dr. Holger Kempkens und Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann bei der Pressekonferenz in Corvey ebenfalls vorstellten. Denn das 1200-jährige Bestehen der ehemaligen Benediktinerabtei und das Zehnjährige der Welterbe-Anerkennung sind Anlass für die Ausstellung.

„Corvey und das Erbe der Antike. Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter“ ist die Sonderausstellung mit spektakulären Leihgaben aus ganz Europa und den USA überschrieben. Vom 21. September 2024 bis zum 26. Januar 2025 wird im Diözesanmuseum erlebbar, wie im Mittelalter antikes Wissen und prägende Kulturtechniken bewahrt und weitergegeben wurden. Ausgangspunkte sind die berühmte Inschrifttafel aus der Gründungszeit des Klosters – sie kommt aus Corvey nach Paderborn zur Ausstellung – und die nördlich der Alpen einzigartigen Wandmalereien im Johanneschor des Westwerks Corvey mit Szenen aus der Odyssee.

Zu den etwa 120 Ausstellungsstücken gehören faszinierende Exponate wie die Burse von Enger, ein Reliquiar aus dem Kunstgewerbemuseum Berlin und eins der bedeutendsten Werke mittelalterlicher Goldschmiedekunst. Aus dem Aachener Dom kommt eine große Bronze-Bärin. Die einzigartige, rund 2300 Jahre alte, hellenistische Statue soll einst Karl der Großen an seinen Hof geholt haben. Das Musée de La Cour d’Or in Metz schickt die erhaltenen Teile des reichverzierten Sarkophags von Ludwig dem Frommen, des Gründervaters der Abtei Corvey. Die berühmte Stiftsbibliothek St. Gallen entleiht kostbare Fragmente einer Handschrift des römischen Dichters Vergil und aus der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz kommt eine Handschrift des römischen Geschichtsschreibers Tacitus zurück in ihre „ostwestfälische Heimat“.

Bücherdiebe ließen Handschrift mitgehen

Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann erläuterte die Ausstellung in Paderborn.

Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann erläuterte die Ausstellung in Paderborn.

Der Text erhielt sich nur in einer einzigen Abschrift aus dem Kloster Fulda und wurde in der Bibliothek des Klosters Corvey bewahrt. Im 16. Jahrhundert entführten Bücherdiebe diese Handschrift im Auftrag der einflussreichen Familie der Medici nach Italien. „Nur aus diesem Manuskript, aus dieser einen Quelle wissen wir heute, dass die legendäre Varusschlacht, in der der Cheruskerfürst Arminius den römischen Feldherren Varus vernichtend schlug, im Teutoburger Wald stattfand“, erläuterte Ausstellungskuratorin Dr. Christiane Ruhmann.

Wegen der Empfindlichkeit der Exponate war ihre Präsentation in Corvey nicht möglich, informierte Dr. Holger Kempkens, Direktor des Diözesanmuseums und Leiter der Fachstelle Kunst im Erzbischöflichen Generalvikariat. Deshalb werde die Ausstellung im Diözesanmuseum gezeigt. Corvey sei eines der wichtigsten und kostbarsten Baudenkmäler im Erzbistum. Die Schau werde die geistliche Ausstrahlungskraft dieses Ortes widerspiegeln.

In Corvey selbst machen digitalen Erlebnisangebote zur Entdeckung des karolingischen Westwerks das gottgeweihte Leben der Mönche auf faszinierende Weise erlebbar. Diese Eindrücke unterstreicht auch die neu konzipierte Dauerausstellung in den Räumen des Schlosses Corvey unter dem Titel „Das Jahrtausend der Mönche. Von der Gründung Corveys bis zum Goldenen Zeitalter“, die zu Saisonbeginn im März eröffnet wurde.

Festakt zum Zehnjährigen

Professor Dr. Christoph Stiegemann wird den Film auch beim Festakt zum Zehnjährigen präsentieren.

Professor Dr. Christoph Stiegemann wird den Film auch beim Festakt zum Zehnjährigen präsentieren.

Die Zehnjährige Welterbe-Anerkennung Corveys wird mit einem Gottesdienst und einem Festakt am Freitag, 28. Juni, ab 18 Uhr in Corvey gewürdigt. Eine Teilnahme ist nur mit Einladung möglich.

Abt Dr. Cosmas Hoffmann von der Benediktinerabtei Königsmünster in Meschede leitet den Gottesdienst zum Auftakt des festlichen Abends mit Gästen aus Kirche, Verwaltung, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft. Vertreter aus Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik sind ebenfalls eingeladen. Kirchenmusikalisch gestaltet die Gregorianik-Schola Marienmünster-Corvey unter der Leitung von Hans Hermann Jansen den Gottesdienst mit.

Den Festvortrag des Abends hält Dr. Birgitta Ringbeck. Sie gehörte zu den Motoren der erfolgreichen Welterbe-Bewerbung Corveys und hat den 700-Seiten-Antrag federführend miterarbeitet. Dr. Ringbeck war von 2012 bis 2022 Leiterin der Koordinierungsstelle Welterbe im Auswärtigen Amt.

Erleben werden die Gäste auch die Filmprojektion auf der Glaswand, deren Sogwirkung auch sie beeindrucken wird.