Was für die heutigen Besucher kaum vorstellbar ist, soll in den kommenden Jahren virtuell erlebbar werden. Karolingische Künstler schufen zur Weihe des Westwerks vor über 1100 Jahren im Auftrag des damaligen Abtes ein Feuerwerk aus Farben und Formen, welches die hohen Räume in eine faszinierende Bilderwelt verwandelte. Sämtliche Architekturelemente waren mit dekorativen Ornamentbändern geschmückt und figürliche Szenen führten den Mönchen in ihrem immer wiederkehrenden Tagesrhythmus das „grausige Meer der Welt“ vor Augen, dem sie standhaft zu widerstehen hatten, um einst in das ersehnte „Himmlische Jerusalem“ zu gelangen.

Odysseus und Skylla

Was macht Odysseus, ein heidnischer Held der griechischen Mythologie, in einem Benediktinerkloster? Wenn wir Dinge mit Argusaugen betrachten oder uns mit Sisyphusarbeiten abmühen, begegnen uns die antiken Götter selbst im heutigen Alltagsleben. Ihre Wirkmacht war in den frühen Jahrhunderten des Christentums noch weit stärker spürbar. So warnte Hieronymus seinen Freund, den Mönch Heliodorus, vor den Gefahren des gesellschaftlichen Lebens:  „Da lockt verführerisch mit jungfräulichem Munde die Skylla der Begierde zum Schiffbruch der Keuschheit.“ Die Kirchenväter begegneten dieser Sogwirkung der heidnischen Sagengestalten durch christliche Umdeutung und so wurde Odysseus, der tapfer dem Meeresungeheuer widersteht, zu einem tugendhaften Vorbild, der das Schiff der Kirche sicher durch das „grausame Meer der Welt“ lenkt. (zitiert nach K.C. Ronnenberg, Mythos bei Hieronymus, Stuttgart 2015, S. 13, S. 190f.)

Sinopien und Stuck

Der Johannischor birgt ein großes Geheimnis. Nahezu unsichtbar für den heutigen Besucher versteckt sich an den unverputzten Wandbereichen, die auf den ersten Blick wie störende Baustellen erscheinen, eine der wertvollsten Entdeckungen innerhalb der Erforschung des Westwerks nach dem Zweiten Weltkrieg. Es handelt sich hierbei um oxydrote Pinselvorzeichnungen für sechs lebensgroße Figuren, die auf dem roten Mauerwerk nur aus nächster Nähe bei sehr gutem Licht erkennbar sind. Diese von den Fachleuten Sinopien genannten Umrisslinien entdeckte die Wissenschaftlerin Hilde Claussen 1992 im Rahmen ihrer Untersuchungen zur ursprünglichen Ausmalung des Johannischors. Es gelang ihr weiterhin, Stuckfragmente, die 1960 im Boden des Johannischors gefunden worden waren, diesen Sinopien zuzuweisen. Sensationelle Entdeckungen! „Die Sinopien und Stuckfragmente sind die einzigen Zeugnisse „von der einstigen Existenz lebensgroßer Stuckfiguren in Altsachsen, am Rande der damaligen christlichen Welt …“ (Claussen, Die Klosterkirche Corvey, Bd. 2, Mainz 2007, S. 357)

Welterbe Westwerk Corvey · Karolingische Wandmalerei im Johannsichor Odysseus und Skylla

Welterbe Westwerk Corvey · Karolingische Wandmalerei im Johannischor Odysseus und Skylla

Sinopie

Figurenskizzen unterhalb des figürlichen Frieses im Johannischor

Welterbe Westwerk Corvey – Detail: Figurenskizzen unterhalb des figürlichen Frieses im Johannischor


Westarkade: Rankenbaum im mittleren Bogen

Welterbe Westwerk Corvey – Westarkade: Rankenbaum im mittleren Bogen

Detail des Figurenfrieses

Welterbe Westwerk Corvey – Detail des Figurenfrieses: Skylla hält einen Krieger umschlungen, während Odysseus einem Skyllahund seine Lanze in den Rachen stößt

 

Johannischor