JubiläumZEITREISE Corvey

Corvey und der Think-Tank an den karolingischen Höfen

By 7. Oktober 2023März 6th, 2024No Comments

In die Antike und ins Mittelalter, aber auch in die unmittelbare Zukunft führte die zehnte und zweitletzte Etappe der „Zeitreise“ zum 1200-jährigen Bestehen der ehemaligen Benediktinerabtei und heutigen Welterbestätte Corvey. Dr. Christiane Ruhmann öffnete ein Fenster in die im Herbst 2024 an den Start gehende Sonderausstellung „Corvey und das Erbe der Antike – Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter“ im Diözesanmuseum Paderborn.

Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann gab den Zuhörerinnen und Zuhörern der “Zeitreise” exklusive Einblicke in die entstehende Ausstellung “Corvey und das Erbe der Antike”. Fotos: Kirchengemeinde Corvey/Sabine Robrecht

Dieses Großprojekt reiht sich ein in die glanzvollen kunst- und kulturhistorischen Schauen des Hauses und spannt zum zehnten Jahrestag der Welterbe-Anerkennung Corveys einen Bogen von der Pader an die Weser. Denn für die Rezeption der Antike im Mittelalter legt das Kloster bei Höxter ein Zeugnis ab, das sich bis heute an diesem charismatischen Ort in Baukunst und zaghaft erhaltener Wandmalerei eindrücklich ablesen lässt.

Weltrang auch in der Überlieferung

Als Kuratorin der leuchtkräftigen Schau in Paderborn gewährte die Referentin des „Zeitreise“-Abends den Gästen ein knappes Jahr vor Ausstellungsbeginn exklusive Einblicke in die Konzeption. Automatisch richtete sich der Scheinwerfer auf ein Alleinstellungsmerkmal Corveys, das dessen universellen Wert mitbegründet, aber vor Ort in der Welterbestätte nicht sichtbar ist. Denn es ist bei weitem nicht nur die bis heute erhaltene Architektur, die das Weserkloster angesichts der Antikenrezeption seiner führenden Köpfe im Mittelalter in den Olymp der Weltdenkmäler erhebt. „Corvey kann auch in der Überlieferung antiker Schriften Weltrang für sich beanspruchen“, postulierte die Archäologin und Historikerin Dr. Christiane Ruhmann. Denn ohne die professionell geführten Schreibstuben mittelalterlicher Klöster – hier war das Skriptorium der 822 gegründeten Benediktinerabtei im Weserbogen ganz weit vorne – hätten sich bedeutende Werke großer antiker Autoren wie Homer, Caesar, Tacitus, Sueton, Ovid und Vergil nicht überliefert.

Eine szenische Collage von Kalle Noltenhans - "Muros eius" - stimmte in der ehemaligen Abteikirche Corvey auf den Vortrag von Dr. Christiane Ruhmann ein.

Eine szenische Collage von Kalle Noltenhans – “Muros eius” – stimmte in der ehemaligen Abteikirche Corvey auf den Vortrag von Dr. Christiane Ruhmann ein.

Mittelalter war nicht dunkel

Deren Schriften sind nicht im Original oder in zeitgenössischen Kopien, sondern nur als spätere Abschriften aus Klöstern wie Corvey erhalten. „Sehr viel, was wir über die Geschichte, die Demokratie, das Heerwesen, die Philosophie, die Poesie der alten Griechen und Römer wissen und was bis heute Teil unserer gemeinsamen europäischen Geschichte ist, verdanken wir also eigentlich dem Mittelalter“, schlussfolgerte die Referentin. Vom dunklen Mittelalter könne daher keine Rede sein.

Professor Dr. Christoph Stiegemann, Leiter des wissenschaftlichen Corvey-Kompetenzteams, hat in seiner Zeit als Direktor des Diözesanmuseums eng mit Dr. Christiane Ruhmann zusammengearbeitet. Er dankte ihr jetzt für die spannenden Einblicke in die Sonderausstellung im Diözesanmuseum.

Professor Dr. Christoph Stiegemann, Leiter des wissenschaftlichen Corvey-Kompetenzteams, hat in seiner Zeit als Direktor des Diözesanmuseums eng mit Dr. Christiane Ruhmann zusammengearbeitet. Er dankte ihr jetzt für die spannenden Einblicke in die bevorstehende Sonderausstellung im Diözesanmuseum.

An der Weser führt kein Weg vorbei, wenn es – wie in der Ausstellung – um die Überlieferung antiker Texte geht. Die Bestände der mittelalterlichen Klosterbibliothek Corveys sind allerdings in alle Winde verstreut. Entsprechend groß ist die Erwartungsfreude auf die Sonderschau. Denn Dr. Christiane Ruhmann und ihr Team führen in Paderborn kostbare Handschriften aus der Benediktinerabtei zusammen. Diese befinden sich heute in Wolfenbüttel, Berlin, Paris, München, Bamberg, New York, Helsinki, Leipzig, der Biblioteca Apostolica Vaticana, der Erzbischöflich Akademischen Bibliothek Paderborn und auch im Diözesanmuseum selbst.

„Corvey kann auch in der Überlieferung antiker Schriften Weltrang für sich beanspruchen“, postulierte die Archäologin und Historikerin Dr. Christiane Ruhmann.

„Corvey kann auch in der Überlieferung antiker Schriften Weltrang für sich beanspruchen“, postulierte die Archäologin und Historikerin Dr. Christiane Ruhmann.

Eine der Schriften – die Tacitus-Annalen – erläuterte die erfahrene Ausstellungsmacherin in ihrem „Zeitreise“-Vortrag in der ehemaligen Abteikirche Corvey ausführlich. Die Jahrbücher des berühmten römischen Historikers berichten unter anderem von der Varusschlacht im Jahr 9 nach Christus. „Tacitus ist der einzige, bei dem überhaupt der Teutoburger Wald als Schlachtort erwähnt wird“, sagt Christiane Ruhmann.  Von seinem Text hat sich nur eine einzige Abschrift aus dem 9. Jahrhundert erhalten. Und diese Kopie gehörte zur Gründungsausstattung des Klosters Corvey.  „Aus Fulda waren den Mönchen die Tacitus-Annalen für die Erstausstattung mitgegeben worden.“ Warum, das wisse man nicht. „Vielleicht, weil das hier beschriebene Gebiet der Varusschlacht ganz in der Nähe lag“, mutmaßte die Referentin.

Gelehrte Bücherdiebe entwenden Handschrift

Was aus der Handschrift wurde, erläuterte sie ebenfalls: „Gelehrte Bücherdiebe“ entwendeten sie im 16. Jahrhundert nach Italien. Dort wurde sie zum Buchdruck freigegeben und verbreitete sich in ganz Europa. Ohne den „Coup“ des Diebstahls „wüssten wir heute viel weniger von der Varusschlacht und schon gar nichts von einer Verbindung zum Teutoburger Wald“, führte Christiane Ruhmann die Unwägbarkeiten antiker Überlieferung vor Augen. Beim Lesen dieser Texte sei aber auch zu beachten, dass die antiken Schriften im Mittelalter nicht immer wortgetreu abgeschrieben, sondern dem Zeitgeschmack entsprechend durchaus verändert wurden.

Die Gregorianik-Schola im Kreuzgang der ehemaligen Benediktinerabtei Corvey: Diese Szene gehört zu einem bei der zehnten "Zeitreise"-Etappe gezeigten Filmbeitrag von Kalle Noltenhans.

Die Gregorianik-Schola im Kreuzgang der ehemaligen Benediktinerabtei Corvey: Diese Szene schafft eine klösterliche Atmosphäre und gehört ebenfalls zu dem bei der zehnten “Zeitreise”-Etappe gezeigten Filmbeitrag von Kalle Noltenhans. Screenshots: Sabine Robrecht

In einem Filmbeitrag von Kalle Noltenhans werden die Stuckfiguren, die in karolingischer Zeit über dem Quadrum des Johanneschors wachten, rekonstruiert. Schemenhaft ist schon das nächste Bild, die Wandmalerei mit der Odysseus-Szene, zu sehen.

Aus welchen Beweggründen sich die Ordenschristen in den Klöstern des Mittelalters mit heidnischen Texten befassten, erläuterte die Wissenschaftlerin ebenfalls: Schriften antiker Autoren wie Vergil, Lucan, Ovid, Horaz und Juvenal dienten „der Verbesserung der Lateinkenntnisse“ und auch dem Erlernen antiker Rhetorik, „die man in der Predigt gut gebrauchen konnte“. „Römische Geschichtsschreiber dagegen – wie Sueton oder Livius – waren zum Beispiel zur Selbstvergewisserung wichtig, denn nicht nur die karolingischen Herrscher wähnten sich tatsächlich als Erben der Antike.“

Dr. Christiane Ruhmann erläuterte anschaulich, dass es die Tacitus-Annalen dank eines Raubes durch „gelehrte Bücherdiebe“ in den Buchdruck und mithin in die Klassenzimmer heutiger Schülergenerationen geschafft haben.

Von deren Höfen aus hat der „Weg“ der Antike wahrscheinlich nach Corvey geführt. Schließlich leitete Ludwig der Fromme höchstselbst die Gründung des Klosters in die Wege und setzte damit die Vision seines Vaters Karls des Großen um. An deren Höfen, so Christiane Ruhmann, lasse sich faszinierenderweise eine Art Think-Tank mit Alkuin von York, Hrabanus Maurus oder Dungal von St. Denis ausmachen. Diese „bemühten sich explizit darum, Antike weiterzugeben und dazu ihre Kontakte nach Rom und Italien nutzen“. Zu jener Denkfabrik, hier wurde eine weitere Spur nach Corvey gelegt, gehörten auch die Gründungsäbte des Klosters, Adalhard (Amtszeit 822–826, er war ein Vetter Karls des Großen) und Wala (826–831, Halbbruder Adalhards).

Die Stifter des Klosters Corvey – Karl der Große (links) und Ludwig der Fromme – hatten an ihrem Hof eine Art Think-Tank mit Gelehrten zusammengeführt. Ziel war die Weitergabe der Antike. Die beiden Herrscher schauen von den Eingängen zur Sakristei ins Kirchenschiff der barocken Abteikirche.

„Wir können diesen gelehrten Kreis – und Aachen als eines der Zentren der Antikenrezeption – in der Ausstellung wohl mit hochrangigen Exponaten zeigen“, kündigte Christiane Ruhmann an. Die Kuratorin steht in Verhandlungen unter anderem für Teile antiker Säulen aus Rom oder Ravenna, „die Karl der Große einst über die Alpen nach Aachen brachte, um sie in seine Pfalzkapelle zu integrieren – wohl eine Anspielung auf Aachen als zweites Rom“.

Hof der Karolinger soll wieder erstehen

„Wir wollen den Hof der Karolinger ein Stückweit wieder erstehen lassen“, gewährte die Referentin Einblicke in das Ausstellungskonzept. Das gelehrte Hof-Umfeld, dem die Gründungsäbte des Klosters angehörten, solle vor allem deshalb präsentiert werden, „um den Besuchenden zu zeigen, auf welchem geistigen Nährboden die in Corvey überlieferten Antiken wurzeln“.

Die Inschrifttafel aus der Gründungszeit des Weserklosters gehört zu den Leihgaben für die Ausstellung aus Corvey.

Die Inschrifttafel aus der Gründungszeit des Weserklosters gehört zu den Leihgaben für die Ausstellung aus Corvey.

Noch ein Screenshot aus dem Filmbeitrag: Auf dem Mauerwerk der Westwerk-Fassade ist schemenhaft der Text der Inschrifttafel zu sehen.

Noch ein Screenshot aus dem Filmbeitrag: Auf dem Mauerwerk der Westwerk-Fassade ist schemenhaft der Text der Inschrifttafel zu sehen.

Zu deren sichtbaren Zeugnissen gehört die berühmte Inschrifttafel aus der Gründungszeit, von der eine Kopie an der Fassade des Westwerks angebracht ist. Das Original gehört zu den Ausstellungs-Leihgaben aus Corvey. Eine „Anleihe aus der Antike“, so Christiane Ruhmann, ist die Schriftart der Buchstaben, die klassische Capitalis Quadrata. Aber auch der Begriff „Civitas“ im Text sei als römischer Rechtsbegriff „zutiefst antik“. Das Material der Tafel, Solling-Sandstein, deute auf etwas Spannendes hin: „Es gab in der Region nicht nur mittelalterliche Bauleute, die es vermochten, so ein faszinierendes Bauwerk wie das Westwerk zu errichten, das bis heute seit über 1100 Jahren besteht. Hier waren offensichtlich auch Handwerker am Start, die – im regional vorhandenen Material – original römische Inschriften herstellen konnten.“

Die Odysseus-Szene an der Nordwand unter der Westempore des Johanneschors hat den Abt, der sie in Auftrag gab, als feinsinnig und in der Antike gebildet ausgewiesen.

Die Odysseus-Szene an der Nordwand unter der Westempore des Johanneschors hat den Abt, der sie in Auftrag gab, als feinsinnig und in der Antike gebildet ausgewiesen.

Welche Vorlage die Handwerker wohl hatten?

Deren Erbe ist für Gäste ebenso sichtbar wie das der Künstler, die die Wandmalereien im Johanneschor schufen. Der Zyklus mit Themen aus der Odyssee „ist die einzige erhaltene Bildquelle, die das Skylla- und Odysseus-Thema im Mittelalter derart antikisch abbildet“, sagt Dr. Ruhmann. Die Geschichte sei zwar „verchristlicht“, die Darstellungsweise entspreche aber sehr genau antiken Darstellungen. „Man fragt sich automatisch, welche Abbildungen die Konzepteure und Handwerker wohl als Vorlage zur Verfügung hatten.“ Ihr Auftraggeber – sehr wahrscheinlich der Abt – habe sich jedenfalls mit dieser Wandmalerei seinem höchstrangigen Publikum, etwa dem in Corvey zu Besuch weilenden Kaiser, als feinsinnig und in der Antike gebildet präsentiert, schlussfolgerte die Referentin. Wandmalerei als Selbstmarketing-Strategie? Gut möglich, dass dieser Nebeneffekt beabsichtigt war.

Auch aktuelle Forschungsergebnisse sind in die Ausstellung einbezogen.

Auch aktuelle Forschungsergebnisse sind in die Ausstellung einbezogen.

Das, was von den antiken Motiven an den Wänden des Johanneschors übrig ist, trägt in seiner Bedeutung zum Welterbestatus Corveys bei und ist so besonders, „dass wir uns entschlossen haben, in der Ausstellung auch eine Reihe ‚echter‘ antiker Darstellungen zu zeigen“, kündigt Dr. Ruhmann an. Erkenntnisse großer Corvey-Forscher wie Uwe Lobbedey und Hilde Claussen, aber auch die Forschungsergebnisse des wissenschaftlichen Kompetenzteams der Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus unter der Leitung von Professor Dr. Christoph Stiegemann sowie der Standortleiterin Annika Pröbe und der beteiligten Restauratoren und anderen Fachleute fließen in die Schau ein.

Ausbesserungsmaterial für andere Bücher

Die „Zeitreise“-Gäste haben aus der Preview der Kuratorin spannende Erkenntnisse auch für ihre eigene Corvey-Rezeption mitgenommen. Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek beispielsweise war fasziniert davon, dass in Corvey die Abschrift eines Textes des römisch-jüdischen Schriftstellers Flavius Josephus entstanden ist. Dieser stammt, so Christiane Ruhmann, aus dem 1. Jahrhundert nach Christus und berichtet über den jüdischen Aufstand in Jerusalem („De bello Iudaico). Die Wissenschaftlerin zeigte in der ihren Vortrag illustrierenden Präsentation eine Abbildung vom Rest dieser Corveyer Abschrift und erläuterte, dass Pergamente wie dieses im Mittelalter mitunter nur als Ausbesserungsmaterial für andere Bücher dienten. Damit stehe dieses Fragment auch sinnbildlich für die absolute Fragmentizität der Überlieferung antiker Schriften allgemein. „Forscher gehen davon aus, dass ein Großteil ganz verloren ging.“

Die großen Sonderausstellungen des Diözesanmuseums gleich neben dem Dom in Paderborn haben eine internationale Ausstrahlung.

Die großen Sonderausstellungen des Diözesanmuseums gleich neben dem Dom in Paderborn haben eine internationale Ausstrahlung.

Corvey und das Erbe der Antike: Die große Ausstellung beginnt im Herbst 2024. Dann liegt die Welterbe-Anerkennung zehn Jahre zurück.

Corvey und das Erbe der Antike: Die große Ausstellung beginnt im Herbst 2024. Dann liegt die Welterbe-Anerkennung zehn Jahre zurück.

Umso spannender ist der Gedanke, dass die Ausstellung in Paderborn eine Vorstellung von den Beständen der mittelalterlichen Klosterbibliothek der Weserabtei vermitteln und das Erbe der Antike als bedeutende Facette Corveys vielseitig ins Bild setzt. Vom 21. September 2024 bis zum 26. Januar 2025 wird sie zu sehen sein. Professor Dr. Christoph Stiegemann, ehemaliger Direktor des Diözesanmuseums und Motor der großen Vorgänger-Ausstellungen, ordnet die Schau als hochkarätig ein. Für die „Zeitreise“-Vortragsreihe, die bald zu Ende geht, dankte er neben der Referentin auch Hans Hermann Jansen vom projektbeteiligten Netzwerk Klosterlandschaft OWL für die ansprechenden Musikbeiträge und Kalle Noltenhans für die eigens konzipierten Filme, die Corveys spirituelle Aura in ansprechenden Bildern zur Entfaltung brachten.

Text: Sabine Robrecht

Sängerinnen und Sänger der Gregorianik-Schola und Hans Hermann Jansen an der Truhenorgel gestalteten den "Zeitreise"-Abend mit.

Sängerinnen und Sänger der Gregorianik-Schola und Hans Hermann Jansen an der Truhenorgel gestalteten den “Zeitreise”-Abend mit.