Während die Doppelturmfassade des karolingischen Westwerks für Fotos werbewirksam Modell steht, führt der zweite Teil des Weltkulturerbes, der als „Civitas“ bezeichnete mittelalterliche Klosterbezirk, zwar gut erhalten, aber nicht sichtbar ein Schattendasein im Boden. Trotzdem wird das verdeckte Denkmal beim Corvey-Besuch gleich auf den ersten Blick gegenwärtig. Denn an der markanten Bruchstein-Front des Westwerks fällt sofort die große Inschriftentafel mit einem Segenswunsch für die „Civitas“ ins Auge. „Umhege, o Herr, diese Stadt und lass deine Engel die Wächter ihrer Mauern sein“: Mönche haben diese Bitte an Gott in Stein meißeln lassen.
Wie hat er denn ausgesehen, der frühe Klosterbezirk, die „Civitas“ Corvey, von der die Ordensmänner so inständig hofften, dass Gott sie behüten möge? Mit dieser Frage haben wir uns an die beiden vor Ort tätigen Kenner der Geschichte Höxters und Corveys, Stadtarchivar und Historiker Michael Koch und Stadtarchäologe Andreas König, gewandt. Beide beschäftigen sich seit mehreren Jahrzehnten mit der archäologischen und historischen Erforschung im Stadtgebiet von Höxter. Zusammen mit dem renommierten Archäologen und Corvey-Forscher Hans-Georg Stephan haben sie das Blatt Höxter und Corvey im Westfälischen Städteatlas bearbeitet und zwei Bände zur mittelalterlichen Stadtgeschichte herausgegeben.
„Ein Gesamtbild lässt sich für das Mittelalter bisher nur in Ansätzen zeichnen“, stellen sie fest und verweisen auf eine unzulängliche historische Bild- und Schriftüberlieferung und bestehende Lücken in der Erforschung der Klostertopographie. Erst aus der frühen Neuzeit liegen umfangreichere Nachrichten vor. „Auch die Klosterdarstellung im Corveyer Lebensbuch aus der Mitte des 12. Jahrhunderts darf nicht ohne weiteres für die Realität gehalten werden, denn sie zeigt in erster Linie die christliche Vision des ‘Himmlischen Jerusalem’“, betont Michael Koch. „Man weiß aber, dass das etwa acht Hektar große Areal stellenweise sehr dicht bebaut war – anders als die heutige Anlage es erscheinen lässt“, sagt Andreas König. Schon in den 1950er Jahren wurde erkannt, dass der Corveyer Klosterplan die Kenntnis des römischen Vermessungswesens voraussetzt, was aber die Klosteranlage keineswegs als Römerlager, sondern vielmehr als ein Objekt der sogenannten karolingischen Renaissance kennzeichnet.
Bis heute ist jedoch nicht bekannt, wie weit das Atrium ehemals nach Westen vorstieß. Bekanntermaßen wurde dieser bis in die frühe Neuzeit hinein auch als ‘Paradies’ bezeichnet, während hier um 1600 ein Büttner seine Werkstatt besaß. Bauhistorische Untersuchungen im karolingischen Westwerk erbrachten sensationelle, einmalige Befunde der Innenraumgestaltung. Auf die frühe Bauzeit des Klosters geht eine Schiffslände ganz in der Nordostecke des Klosterareals zurück – dem späteren Standort der Werneburg –, wo unter anderem Baustoffe entladen wurden und in deren Nähe sich archäologische Hinweise auf Metallverarbeitung finden ließen. Die Schiffslände wurde wohl im Zuge der Errichtung der Klosterummauerung noch im 9. Jahrhundert wieder aufgegeben. „Eine Großbaustelle und hydraulische Meisterleistung ist die Anlage des Grubekanals zur Wasserversorgung der Klosterbewohner und der im Kloster ansässigen Gewerbe gewesen“, hebt Andreas König hervor. „Der Kanal ist in seinem Verlauf etwa fünf Kilometer lang und bereits im 9. Jahrhundert angelegt worden.“ Bekanntlich endet die Grube heute in der Altstadt von Höxter, während der Abschnitt des alten Grubekanals in Corvey, was viele nicht wissen, seit dem fortgeschrittenen Mittelalter vom umgeleiteten Wasser der Schelpe durchflossen wird.