JubiläumPresseZEITREISE Corvey

Corvey und der Daumenabdruck als Visitenkarte

By 22. September 2023April 5th, 2024No Comments

Als die Künstler im Johanneschor des karolingischen Westwerks die Vorzeichnungen für die sechs lebensgroßen Stuckfiguren auf das Mauerwerk in den Arkadenzwickeln auftrugen, hinterließ einer von ihnen im Bereich der südwestlichen Sinopie seine ganz persönliche Visitenkarte. Ob er gedacht hätte, dass dieser Daumenabdruck an der Wand mehr als 1100 Jahre später noch von ihm erzählen würde? Bei der neunten Etappe der „Zeitreise“ in Corveys große monastische Geschichte war die Entdeckung dieser Spuren ein schönes Detail im höchst informativen Vortrag der Standortleiterin Annika Pröbe.

Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek (rechts) und geschäftsführender Kirchenvorstand Josef Kowalski danken Annika Pröbe für ihren hervorragenden Vortrag und die gedeihliche Zusammenarbeit der vergangenen Jahre.  Fotos: Kirchengemeinde Corvey/Sabine Robrecht

Die Historikerin gab dem wieder erfreulich großen Zuhörerkreis aufschlussreiche Einblicke in die publikumswirksame und wissenschaftlich fundierte didaktische Erschließung dieses Weltdenkmals mit modernen Medien, aber auch in das fortwährend gebotene konservatorische und raumklimatische Monitoring sowie in restauratorische Arbeiten und die weitere Erforschung dieses 2014 zum Welterbe geadelten Leuchtturms der Christenheit. Im Rahmen der Untersuchungen und Dokumentationen geht den Wissenschaftlern bei ihrem Erkenntnisgewinn auch angesichts kleiner „Randnotizen“ wie dem karolingischen Daumenabdruck immer wieder das Herz auf. „Man muss sich vorstellen, dass er fast 1200 Jahre alt ist“, ließ Annika Pröbe den Funken der Begeisterung auf das Publikum überspringen.

Hochsensible Bausubstanz

Annika Pröbe kann in ihrem Vortrag auf viel Erreichtes zurückblicken.

Mit welch hochsensibler Bausubstanz es die Fachleute an diesem besonderen und nach wie vor strahlkräftigen Ort am Weserstrand zu tun haben, vermittelte die Mediävistin aus eigenem Erleben:  Seit 2016 gehörte sie dem wissenschaftlichen Kompetenzteam der Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus an und hat seit 2023 vom Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn aus die Standortleitung für das Welterbe karolingisches Westwerk und die barocke Abteikirche inne. Annika Pröbe ist also nicht nur nah dran, wenn es darum geht, im Westwerk kostbare Wandmalereien aus karolingischer Zeit zu sichern und ihren Zustand laufend zu dokumentieren, sondern koordiniert diese anspruchsvollen interdisziplinären Arbeiten. Restauratoren, Klimaforscher, Historiker und der langjährige Architekt der Kirchengemeinde, Albert Henne, sind zu einem eingespielten Team zusammengewachsen.

Gerüste prägen den Raumeindruck im Johanneschor. Foto: Kalle Noltenhans

Dieses hat in den vergangenen Jahren viel erreicht, wie Annika Pröbe im Vortrag eindrucksvoll vor Augen führte. Der Johanneschor war von 2018 bis 2020 ein Wald aus Gerüsten, damit die renaissancezeitliche Stuckdecke gereinigt werden konnte. Das Augenmerk der Restauratoren galt aber auch den zaghaft erhaltenen Wandmalereien in der Westempore. Und natürlich den Sinopien, deren noch nicht restaurierten Erhaltungszustand Annika Pröbe als hervorragendes Ergebnis einstufte. „Die Vorzeichnungen mussten lediglich gereinigt und gesichert werden.” Außerdem entfernten Fachleute Stromleitungen, die in den 1950-er Jahren durch zwei der sechs Sinopien hindurch gelegt worden waren. Zur „Ehrenrettung“ der Elektriker sagte Annika Pröbe aber gleich dazu, dass die Handwerker nicht wissen konnten, was sie anrichten. Denn die Sinopien sind erst in den 1990-er Jahren von der renommierten Corvey-Forscherin Hilde Claussen entdeckt worden. Der Fund war eine Sensation.

Hochdruck hinter verschlossenen Türen

In Schutzanzügen haben Restauratoren den Anstrich von den Säulen entfernt.

In Schutzanzügen entfernen Restauratoren im März 2020 im Erdgeschoss des Westwerks den Anstrich von den Säulen.

In der Erdgeschosshalle des Westwerks ist während der Corona-Lockdowns 2020 hinter verschlossenen Türen einiges geschehen, wie die Standortleiterin im weiteren Verlauf ihres Vortrags berichtete. Fachleute befreiten die Schäfte der Säulen des Quadrums von einem Anstrich, der in den 1960-er Jahren auf den Naturstein aufgebracht worden war. Diese und weitere Arbeitsschritte der Restauratoren veranschaulichte die Referentin mit Fotos und zeigte bei der Gelegenheit auch kartierte karolingische Farbbefunde von den Kämpferzonen der Pfeiler und den korinthischen Kapitellen der Säulen. „Die Farben wurden direkt auf dem porigen Sandstein aufgetragen. Deshalb blieben Reste erhalten.“ Und können heute eine Vorstellung von der Farbigkeit dieses Raumes vermitteln.

Während die Besucher in der Erdgeschosshalle des Westwerks ein und ausgehen, arbeitet die Restauratorin Katharina Heiling hinter einer Einhausung.

Sommer 2020 im Westwerk: Während die Besucher in der Erdgeschosshalle ein und ausgehen, arbeitet die Restauratorin Katharina Heiling hinter einer Einhausung im Südseitenschiff an der Sicherung des karolingischen Wandfrieses.

Um die Reste des umlaufenden karolingischen Akanthusfrieses im Südseitenschiff zu sichern, wurde im Sommer 2020 die in den 1960-er Jahren neu eingezogene Decke entfernt. Sie übte zu viel Druck auf die direkt angrenzenden Wandmalereien aus. Die neu eingezogene flache Lehmputzdecke hat genug Abstand. Die Einbauarbeiten vollzogen sich versteckt hinter einer Einhausung. Weil die Corona-Regeln in dieser Zeit Besuche wieder zuließen, gingen die Gäste an dieser Verkleidung entlang in die Kirche.

Gerüste vor barocker Pracht

In der barocken Abteikirche schauten die Besucher Ende 2020 dann auf Gerüste. Sie gehört zwar nicht zum eigentlichen Welterbe, dem Westwerk, ist aber wegen ihrer engen Verbindung trotzdem Teil des Managementplans. Mithin kümmert sich das wissenschaftliche Kompetenzteam auch um die Kirche und ihre prachtvolle Ausstattung.

Restauratorin Sina Theile (links) aus Obermarsberg nimmt mit Karen Keller, restauratorische Fachbauleitung im Dezember 2020  das Hochaltar-Relief mit dem Gesicht Jesu und dem Schweißtuch der Veronika in Augenschein. Foto: Kirchengemeinde Corvey/Sabine Robrecht

Restauratorin Sina Theile (links) aus Obermarsberg nimmt mit Karen Keller, restauratorische Fachbauleitung im Welterbe Corvey,  im Dezember 2020  in der Abteikirche das Hochaltar-Relief mit dem Gesicht Jesu und dem Schweißtuch der Veronika in Augenschein. Fotos: Kirchengemeinde Corvey/Sabine Robrecht

Im Dezember 2020 nun untersuchten Restauratoren unter der Ägide der restauratorischen Fachbauleitung Karen Keller den Hochaltar und die beiden Seitenaltäre. Sie nahmen fachmännische Reinigungen und Substanzsicherungen vor und dokumentierten ihre Erkenntnisse, was zukünftigen Forschern und Restauratoren zugutekommt.

Eineinhalb Jahre später dann unterbrach eine Wand aus Spanplatten die Sichtbeziehung zwischen Westwerk und Abteikirche. Sie diente dem Schutz der Barockausstattung und der frisch restaurierten Andreas-Schneider-Orgel vor dem Staub, der beim Einbau der Glaswand und den vorbereitenden Arbeiten anfiel.

Diese Glasanlage zwischen Westwerk und Kirche ist, so Annika Pröbe, „eines der Meisterstücke“ des Architekten Albert Henne. Er saß bei ihrem „Zeitreise“-Vortrag im Publikum und erinnerte sich lebhaft, als sie Fotos von der Anlieferung der Elemente für die Glaswand zeigte: Via Kran gelangten die großen Teile Anfang Dezember auf dem Luftweg vom Domänenhof aus vor das Westwerk – bei dichtem Schneetreiben. „Zum Glück ist alles gut gegangen“, sind Annika Pröbe und Albert Henne in der Rückschau auf diesen besonderen Tag noch heute erleichtert.

Glaswand als Weihnachtsgeschenk

Spektakuläre Ankunft bei Schneetreiben: Am Haken eines Krans schweben die Glaselemente im Dezember 2022 vom Domänenhof aus an den Türmen des Westwerks vorbei.

Spektakuläre Ankunft bei Schneetreiben: Am Haken eines Krans schweben die Glaselemente im Dezember 2022 vom Domänenhof aus an den Türmen des Westwerks vorbei.


Architekt Albert Henne (von rechts), Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek, Kirchenvorstand Josef Kowalski und der Verwaltungsleiter des Pastoralverbunds, Marcus Beverungen, kurz vor Heiligabend 2022 in Corvey. Die gerade eingebaute Glaswand ist ein Weihnachtsgeschenk.

Seit Weihnachten 2022 steht die sich selbst tragende gläserne Wand nun. Und kann auf Knopfdruck blickdicht geschaltet werden. Eine Folie macht es möglich. Diese aufzubringen, geht auf eine Idee des Leiters des wissenschaftlichen Kompetenzteams der Kirchengemeinde, Professor Dr. Christoph Stiegemann, zurück: Er möchte im Rahmen der multimedialen Erschließung des Westwerks mit einem Film in die klösterliche Geschichte Corveys einführen. „Durch vier Projektoren auf Kirchenseite wird die Glaswand zur Projektionsfläche für diesen Film“, erläuterte Annika Pröbe. Dieser gipfelt in der Visualisierung der rekonstruierten karolingischen Basilika. Dann wird die Erdgeschosshalle des Westwerks in ihrer eigenen Ausstrahlung erlebbar und nicht, wie jetzt, als reiner Durchgangsraum, der sie ist, weil die Triumphalarchitektur der Barockkirche den Blick der Menschen geradezu magisch anzieht.

Der karolingische Vorgängerbau des heutigen Gotteshauses wird schon ganz am Anfang in seinem inneren Erscheinungsbild „so kostbar gewesen sein wie es sonst nur im südalpinen Raum und in Frankreich der Fall war“, erläuterte Annika Pröbe den Gästen in ihrem Vortrag. Dennoch wird die Basilika sowohl auf der Glaswand, als auch auf den Bildschirmen der Tablets im Johanneschor nur schlicht nachempfunden. „Wir haben zu wenige Anhaltspunkte, um die Ausmalung fachgerecht rekonstruieren zu können“, begründete die Wissenschaftlerin die Zurückhaltung.

Figuren wachsen aus der Wand

Der Johanneschor war zu seiner Erbauungszeit ein Feuerwerk aus Formen und Farben. Als solchen sehen ihn die Gäste auf dem Bildschirm eines Tablets. Foto: Kirchengemeinde Corvey

Trotzdem machen die Raumimpressionen Eindruck – so wie es alle interaktiven Elemente der app-basierten „Zeitreise“ in die ursprüngliche Ausgestaltung des Johanneschores tun. Was die Gäste in Wechselwirkung mit dem authentischen Ort auf dem Bildschirm des Tablets erleben, erläuterte die Standortleiterin in ihrem Vortrag mit großer Leidenschaft. Die Gäste sehen die lebensgroßen Stuckfiguren aus der Wand wachsen, können den Werkprozess von der Vorzeichnung bis zum Modellieren nachvollziehen, sehen die Farbigkeit der zaghaft erhaltenen Wandmalereien und schauen durch die Orgelrückwand hindurch hinunter in die karolingische Kirche.

Welterbe verpflichtet

Die Inschriftentafel aus der Gründungszeit des Klosters erschließt sich in ihren eindrucksvollen Goldbuchstaben ebenso wie die ersten Bauphasen der Kirche und des 873 bis 885 entstandenen Westwerks. „Neben dem edukativen Mehrwert sollen die digitalen Anwendungen auch Spaß machen“, betonte Annika Pröbe. Das müsse nicht zwangsläufig mit einer Banalisierung einhergehen.  Ganz im Gegenteil: „Von populären Inhalten wollten wir uns klar abgrenzen“, verwies die Mediävistin darauf, dass wissenschaftliche Erkenntnisse zum Dekorsystem dieses Sakralraums die alleinige Grundlage der Augmented-Reality-Animationen waren. Neue Forschungsergebnisse, die es sicher geben wird, können in der App jederzeit ergänzt werden. Sie bleibt auf dem Laufenden. Es lohnt sich also immer mal wieder, den Johanneschor im Rahmen von Führungen mit dem Tablet zu erkunden.

Die Entdeckungsreise in die ursprüngliche Ausgestaltung des Johanneschores hat schon viele Gäste begeistert.

Die Entdeckungsreise in die ursprüngliche Ausgestaltung des Johanneschores hat schon viele Gäste begeistert.


Gern nehmen die Gäste die Möglichkeit wahr,  in Wechselwirkung mit dem authentischen Ort auf Zeitreise zu gehen.

Dazu lädt die Standortleiterin die Menschen ganz herzlich ein. Schließlich ist der Welterbestatus mit der Verpflichtung verbunden, einem breiten Publikum den universellen Wert der Weltdenkmäler zu erschließen. Dazu soll die Augmented Reality (erweiterte Realität) im Johanneschor beitragen. „Sie schafft auch ein Bewusstsein für die Sensibilität der Bausubstanz und die Wichtigkeit ihres Erhalts.“

Das großartige Angebot ist im Sommer an den Start gegangen. Abgerundet demnächst mit dem fesselnden Film auf der Glaswand im Erdgeschoss,  führt es das 1200-jährige Corvey ins digitale Zeitalter und bringt die Weserabtei in gute Gesellschaft mit großen Welterbestätten wie Tarragona in Spanien und die Domus Aurea in Rom. Von VR-Brillen, wie sie in dem sagenumwobenen goldenen Palast des Kaisers Nero zum Einsatz kommen, hat das Kompetenzteam um Professor Stiegemann und Annika Pröbe für Corvey Abstand genommen: „Bei allen Sympathien war für uns klar, dass das Erlebnis der besonderen Aura des Originals an erster Stelle steht.“ Von diesem Original schotten VR-Brillen die Gäste ab. „Außerdem ist eine Kommunikation der Besucher untereinander kaum möglich“, nannte Annika Pröbe ein weiteres Gegenargument.

Klima wird überwacht

Während die Gäste in Westwerk und Kirche ein und ausgehen, behalten die Restauratoren die Bausubstanz des Weltdenkmals im Auge. Bei diesem Langzeit-Monitoring kommen ebenfalls innovative Technologien, ein modernes 3D-Verfahren, zum Einsatz. Auch wird das Klima weiter überwacht und dokumentiert. „Deshalb sehen Sie im Johanneschor, im Westwerk und in der Abteikirche überall Messfühler“, erläuterte Annika Pröbe. Sie zeichnen Klimadaten auf. „Ziel ist es, eine langfristige Klimastabilisierung zu entwickeln.“ Hinzu kommt die vom geschäftsführenden Kirchenvorstand Josef Kowalski erwähnte barrierefreie Erschließung des Johanneschores von den angrenzenden Domänengebäuden aus.

Es bleibt also betriebsam in Corvey. Und spannend. Josef Kowalski sieht in allen großen Fortschritten auch hin zur publikumswirksamen Vermittlung der „Substanz und Seele Corveys” eine Fortsetzung dessen, was die Mönche aus Corbie vor 1200 Jahren begonnen haben: Sie schufen – dem Auftrag Jesu Christi entsprechend – einen Ort zur Verkündigung seiner frohen Botschaft. „Wir müssen diese Flamme am Brennen halten, damit Corvey ein Leuchtturm der Christenheit bleibt.“ Aus diesem Geist setzt die Kirchengemeinde alles daran, die Menschen aus nah und fern für ihr unvergängliches Corvey zu begeistern.

Text: Sabine Robrecht

Auf das schon Erreichte, was lange auch im Verborgenen geschehen ist, haben die Gäste der „Zeitreise“ dank der Erläuterungen von Annika Pröbe einen Blick werfen können. Musikbeiträge in ansprechenden Filmen rundeten den Abend wie immer ab.