Die Äbte Corveys waren vernetzt mit Rom und Byzanz und gehörten zu den Gelehrten des karolingischen Hofs. Sie machten das Benediktinerkloster am Weserbogen zu einem Zentrum der Übermittlung antiker Schrift, Architektur und Wandmalerei. Als solches erstrahlt das heutige Weltkulturerbe ab Samstag, 21. September, vom Diözesanmuseum Paderborn aus.
Dort eröffnet an diesem Tag die große Sonderausstellung „Corvey und das Erbe der Antike. Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter“. Zwei Tage vor dem Start hatte die Presse Gelegenheit zu einer Preview. Die Journalistinnen und Journalisten konnten sich ein Bild davon machen, wie mehr als 120 faszinierende Leihgaben aus über 50 europäischen und US-amerikanischen Museen, Bibliotheken und Archiven die Antikenbegeisterung des Frühmittelalters eindrücklich ins Heute holen und den Beweis dafür antreten, dass das Mittelalter alles andere als „finster“ war.
Burse von Engar
Zu den charismatischen Exponaten gehört die „Burse von Enger“ aus dem Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin, ein faszinierendes Goldschmiedewerk des 8. Jahrhunderts, das noch viele Geheimnisse birgt. „Im Vorfeld der Ausstellung wurde, mit großzügiger Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung, ein großangelegtes Restaurierungs- und Forschungsprojekt initiiert“, berichten die Ausstellungsmacher. „Die Burse von Enger wird in Paderborn erstmals zusammen mit Stücken gezeigt, die von vergleichbarem Rang sind: mit der ‚Großen Fibel von Dorestad‘– einer goldenen Gewandspange aus dem Rijksmuseum van Oudheden in Leiden – oder dem ‚Theuderigus-Schrein‘ aus St. Maurice d’Agaune.“
Außerdem sind zwei Schlüsselwerke für die Corveyer Buchmalerei zu sehen: ein Evangeliar des späten 9. Jahrhunderts aus dem Besitz des Prager Domkapitels, das erstmals außerhalb Tschechiens gezeigt wird, sowie das in Corvey um 970 gefertigte sogenannte „Quedlinburger Evangeliar“, heute in New York. „Weitere kostbare Handschriften sind aus den Bibliotheken in Paris, Amiens, London und Helsinki gekommen, zudem sind feinste karolingische Elfenbeinschnitzereien aus Liverpool und Paris zu Gast in Paderborn. Der Schatz von San Marco in Venedig hat eine kostbare byzantinische Glasvase entsandt“, berichtet Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann. Und: „Aus der Vorhalle des Aachener Doms ist die berühmte bronzene Bärin, die Ursa, angereist. Zu ihr präsentiert die Ausstellung auch neueste Forschungsergebnisse. Das Musée de La Cour d’Or in Metz hat die erhaltenen Teile des reichverzierten Sarkophags von Ludwig dem Frommen, des Gründervaters der Abtei Corvey, nach Paderborn geschickt.“ Die berühmte Stiftsbibliothek St. Gallen hat kostbare Fragmente eines Werkes des römischen Dichters Vergil entliehen, und aus der Biblioteca Medicea Laurenziana in Florenz ist eine mittelalterliche Abschrift der Annalen des römischen Geschichtsschreibers Tacitus zurück in ihre ostwestfälische „Heimat“ gereist.
Abschrift kommt aus Florenz
Die Abschrift der Tacitus-Annalen gehörte im 9. Jahrhundert zur Gründungsausstattung des Klosters Corvey. Aus Fulda war sie den Mönchen für die Erstausstattung ihres neuen Klosters an der Weser mitgegeben worden. Für die Ausstellung im Diözesanmuseum ist die großartige Handschrift nun aus der Biblioteca Medicea Laurenziana Florenz gekommen.
Die Jahrbücher des berühmten römischen Historikers Tacitus thematisieren ein Ereignis, das alle Heimatforscher in Westfalen „elektrisiert“, so Christiane Ruhmann: die Schlacht im Teutoburger Wald, in der Arminius im Jahr neun nach Christus die Römer aus Westfalen vertreibt. Der Teutoburger Wald als Ort der Schlacht wird nur bei Tacitus erwähnt. Seine Jahrbücher hätten sich ebenso wie die bedeutenden Werke weiterer großer antiker Autoren ohne die professionell geführten Schreibstuben mittelalterlicher Klöster nicht überliefert.
Hier war das Skriptorium der 822 gegründeten Benediktinerabtei Corvey ganz weit vorne. Daher ist das Weserkloster Ausgangspunkt der großen Ausstellung. Aus der heutigen Welterbestätte bei Höxter sind natürlich auch Exponate in Paderborn zu sehen, darunter die berühmte Inschriftentafel aus der Gründungszeit des Klosters. Sie legt eindrucksvoll Zeugnis ab von der Antikenrezeption im Mittelalter und Corveys exponierter Position bei diesem großen Kulturtransfer.
Festliche Eröffnung im Hohen Dom
Die Ausstellung wird am Freitagabend, 20. September 2024, im Hohen Dom zu Paderborn vor geladenen Gästen feierlich vom neuen Erzbischof Dr. Udo Markus Bentz eröffnet. Den Festvortrag hält Professor Dr. Harald Wolter-von dem Knesebeck vom Kunsthistorischen Institut in Bonn, der einen der hochkarätigen Zeitreise-Abende im Jubiläumsjahr zum 1200-jährigen Bestehen Corveys gestaltet hat. Der Schweizer Historiker Dr. Cornel Dora, Stiftsbibliothekar von St. Gallen, spricht stellvertretend für die Leihgeber der Ausstellung ein Grußwort. Die musikalische Gestaltung der Eröffnung übernimmt Domkantor Patrick Cellnik.
Flankiert werden die mehr als 120 Exponate im Diözesanmuseum Paderborn von Filmen und Texten. Sie geben lebendige Einblicke in die Tätigkeit von Restauratorinnen und Restauratoren, Forschenden und Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern, die heute das antike Erbe bewahren. Ein reich bebilderter Katalog zur Ausstellung bietet die neuesten Erkenntnisse europäischer Wissenschaftler zur Antikenrezeption in der Karolingerzeit sowie ein beeindruckendes Panorama faszinierender Exponate zwischen Antike und Mittelalter. Der Katalog erscheint im Michael Imhof Verlag, 656 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen, 39,95 Euro im Museum, 49,95 Euro im Buchhandel.
Das umfangreiche Veranstaltungs- und Vermittlungsprogramm, eine Reihe von Videointerviews mit an der Ausstellung beteiligten Forscherinnen und Forschern und weitere Informationen zu Tickets und Anfahrt finden Sie unter www.erbe-der-antike.de. Gruppenführungen sind buchbar über die Touristeninformation Paderborn: 05251/881 29 80, E-Mail tourist-info@paderborn.de, info@paderborn.de. Öffnungszeiten / Tickets: Dienstag bis Sonntag, 10 bis 18 Uhr, jeden ersten Mittwoch im Monat bis 20 Uhr. zwölf Euro /ermäßigt sechs Euro, freier Eintritt für Kinder bis 12 Jahren (siehe Website).
Lesen Sie hier die von unseren Kolleginnen und Kollegen des Diözesanmuseums gesammelten Zitate zur Ausstellung:
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Schirmherr der Ausstellung
„Es gibt in der europäischen Kulturgeschichte wohl nur wenige Prozesse, die ähnlich interessant, ähnlich entscheidend für unsere eigene Geschichte sind wie der mittelalterliche Kulturtransfer von der Antike in die damalige Gegenwart. Es gibt auch nur wenige Prozesse, die so zielgerichtet in Gang gesetzt und immer weitergetrieben wurden und die mit ähnlicher Intensität und unter Aufbietung so großer physischer und intellektueller Kräfte unternommen wurden.“
Dr. Udo Markus Bentz, Erzbischof von Paderborn:
„Dass in unseren Breiten vor allem die Klöster mit ihren Bibliotheken, ihren Skriptorien, aber auch ihren Werkstätten als Orte des Antiken-Transfers eine ganz besondere Rolle spielten, dass hier Technologien aus Rom, Byzanz, dem Nahen Osten mitunter auch auf seit Langem in der Region verwurzeltes Handwerk trafen, zeigt die Ausstellung ‚Corvey und das Erbe der Antike‘ auf eindrückliche Weise. Genau in dieser Zeit wurden für uns in Westeuropa die Weichen für eine christlich-kulturelle Prägung gestellt, wurden wir Teil eines großen, lang in die Vergangenheit und weit bis in den Mittelmeerraum und darüber hinausreichenden Netzwerkes, das uns bis heute trägt und aus dem heraus wir auch den Herausforderungen der Zukunft gestärkt entgegensehen können.“
Dr. Holger Kempkens, Direktor Diözesanmuseum Paderborn:
„Bedeutende Klöster wie die karolingische Reichsabtei Corvey an der Weser spielten bei der von Kaiser Karl dem Großen (747/48–814) und seinem Sohn Kaiser Ludwig dem Frommen (814–840) geförderten Wissenssammlung und -organisation eine entscheidende Rolle. Deren Bibliotheken waren nicht allein Horte des Wissens zur Antike, sondern auch Relaisstationen für dessen Verbreitung. Doch nur das, was man dort und in den ‚Think-Tanks‘ der Herrschenden für überlieferungswürdig hielt, wurde im Zuge der Einführung der Schriftlichkeit auch abgeschrieben und weiterverbreitet. Gleichzeitig entstanden in den Bauhütten und Werkstätten der mittelalterlichen Klöster und Königspfalzen faszinierende Werke der Architektur, der Buchmalerei, der Goldschmiede- und Elfenbeinkunst in antiker Tradition. Mitunter arbeiteten die mittelalterlichen Handwerker antike Originale um oder integrierten sie prominent in ihre eigenen Werke. Vereinnahmt und geprägt vom jeweiligen Zeitgeist, erzählen sie eigene, neue Geschichten und geben uns bis heute Rätsel auf. Im Mittelpunkt der Ausstellung stehen die kostbaren Originale und die Frage, wie antike Kunssttechniken, die in der Zeit nach dem Untergang des Römischen Reiches fast verloren schienen, im Mittelalter wieder aufleben konnten (…).“
Dr. Christiane Ruhmann, Kuratorin Diözesanmuseum Paderborn und verantwortlich für die Sonderausstellung:
„Wie kam Odysseus an die Weser? Vor mehr als 1000 Jahren entstanden im Westwerk Corvey Malereien, die den Kampf des antiken Helden Odysseus gegen das Meeresungeheuer Skylla zeigen. Die Darstellung des Odysseus als Person ist für das Mittelalter einmalig. Sie gehört zu den frühesten erhaltenen Bildquellen für die christliche Umdeutung antiker Mythologie. Doch woher kannten ihre Schöpfer die Geschichte? Warum war die Erzählung von Odysseus, der auf der Heimfahrt vom Trojanischen Krieg dem Monster Skylla begegnete, im Mittelalter noch so wichtig? Was wussten die Auftraggeber eigentlich über die Antike? Diesen Fragen gehen wir in unserer Ausstellung nach und haben dazu wunderbare Exponate in Paderborn versammeln können. Schlaglichtartig beleuchtet die Ausstellung auch Byzanz als weiterhin bestehenden Teil des antiken Römischen Reiches sowie – das ist wichtig, um die oft postulierte Polarität von klassischer Antike und dunklem Mittelalter aufzubrechen – das Christentum selbst als aus der Antike stammendes Erbe. Insbesondere glücklich bin ich über die Zusammenarbeit mit den zahlreichen heutigen Bewahrern der Antike, den Institutionen an unterschiedlichsten Orten der Welt, die sich dem Erhalt, der Erforschung und der Vermittlung dieser einzigartigen Exponate widmen. Sie sind diejenigen, die uns mit ihrer Arbeit überhaupt erst die Möglichkeit geben den Blick zurück und zugleich nach vorn zu werfen.“
Dr. Cornel Dora, Stiftsibliothekar von St. Gallen, Leihgeber/Grußwort zur Ausstellungseröffnung:
„In unserer heutigen Umbruchzeit lohnt sich der Blick zurück zu den Karolingern und Ottonen. In einem nach langen Wirren wieder gefestigten politischen Rahmen wurde vom 8. bis 11. Jahrhundert nicht nur die gesellschaftliche Ordnung neu definiert, sondern die europäische Kultur spirituell aufgeladen und inspiriert. Die Kirche war die Sinngebungsmaschine jener Epoche. Sie definierte menschliche Würde neu als etwas, das alle Menschen gleichermaßen besitzen, eine großartige Leistung.“
Dr. Brigitta Falk, Leiterin der Aachener Domschatzkammer:
„In der Aachener Domschatzkammer sind wir froh und dankbar für die wunderbare Kooperation mit dem Paderborner Diözesanmuseum. Unsere Bärin, ein in seiner Komplexität weithin unterschätztes Kunstwerk, war jedoch bisher kaum erforscht. Durch die Ausstellung wurde es möglich, die Figur, ihren Zustand und ihre Geschichte umfassend zu untersuchen, mit vielen erstaunlichen Ergebnissen. In Paderborn ist die Bärin erstmals in der ursprünglich vorgesehenen Höhe aufgestellt, wodurch die Schönheit und künstlerische Qualität dieses antiken Kunstwerkes seit vielen Jahrhunderten erstmals wieder sichtbar wird.“
Dr. Francesca Gallori, Direktorin der Biblioteca Medicea Laurenziana, Florenz:
„Die beiden Manuskripte von Tacitus und Plinius, welche sich ursprünglich in der Bibliothek der Abtei Corvey befanden, ermöglichen es den Paderborner Ausstellungsbesuchern, zwei historische Zeugnisse zu erleben, welche die Liebe der Mönche zum Klassizismus im 9. Jahrhundert widerspiegeln. Sie können sich außerdem mit den Inhalten der Schriften auseinandersetzen, wie z.B. dem „Kommentar zu Boethius“ von Bovo II, einem Abt Corveys, oder der Geschichte der Sachsen von Widukind von Corvey.“
Isabelle Bardiès-Fronty, Kuratorin am Musée de Cluny, Paris:
„Die Ausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ im Paderborner Diözesanmuseum ist eine außergewöhnliche Gelegenheit, die liturgischen und devotionalen Ausstattungen zu entdecken, welche die von Ludwig dem Frommen gegründete Abtei geschmückt haben müssen. Unter diesen Gegenständen sind die hausförmigen Reliquienschreine ein direktes Erbe aus der früheren Zeit. Das Reliquiar aus dem Musée de Cluny ist eines der ältesten Reliquienschreine der westlichen Welt, auch wenn seine frühe Geschichte ein Rätsel bleibt. Er gehört zu den wenigen Schreinobjekten aus der Übergangszeit zwischen der Merowinger- und der Karolingerzeit. Er war einer der Gegenstände für die Schatullen und Eucharistiebeutel, die in den karolingischen Abteien weit verbreitet waren und sich während des gesamten Mittelalters großer Beliebtheit erfreuten.“
Brody Neuenschwander, Künstler und Kalligraph
„Es ist erstaunlich, wie gut die Mönche des neunten Jahrhunderts die antiken Inschriften verstanden. Sie studierten sie eingehend, analysierten die Struktur der Buchstaben, sahen sich die Technik an, mit der die römischen Inschriften in Stein gemeißelt wurden, und erkannten, wie sie diese Technik mit einem Stift in ein Buch übertragen konnten. Natürlich hatte keiner der Mönche Vorkenntnisse in diesem Bereich, aber sie konnten schauen, analysieren und sie konnten verstehen, was etwa fünfhundert Jahre zuvor vor sich gegangen war. Es ist ein sehr beeindruckender Aspekt der Weitergabe, der Wiederentdeckung dieses antiken Erbes.”