Die ehemalige Benediktinerabtei Corvey mit ihrem wunderbar erhaltenen karolingischen Westwerk ist ein bedeutendes Zeugnis der Antikenrezeption in Westfalen. Deshalb bildet die heutige UNESCO-Welterbestätte auch den Ausgangspunkt der bevorstehenden großen Sonderausstellung im Diözesanmuseum Paderborn.
Die Schau läuft vom 21. September 2024 bis zum 26. Januar 2025. Sie holt das Erbe der Antike nicht nur mit charismatischen, Jahrtausende alten Exponaten ins Heute, sondern inszeniert den Kulturtransfer dieser prägenden Epoche lebendig mithilfe von Filminstallationen und anderen modernen Tools. Die Gäste erleben, wie antikes Wissen und antike Kultur über das Mittelalter bis in die Gegenwart gelangten und bis heute unsere europäische Gesellschaft prägen. Außerdem erhalten sie Einblicke in die Tätigkeit von Restauratoren, Forschenden und Naturwissenschaftlern, die das Erbe der Antike heute bewahren.
Tacitus-Annalen abgeschrieben und bewahrt
Vom Weserbogen – dem Ausgangspunkt der Ausstellung – aus schauen wir in diesen letzten Wochen vor dem Start mit Vorfreude in Richtung Paderborn. Denn die glanzvolle Schau, die die Benediktinerabtei im Titel trägt („Corvey und das Erbe der Antike“), bringt eine spannende, vor Ort nicht auf den ersten Blick ablesbare Facette der Bedeutung dieses großen Erinnerungsortes bei Höxter zum Leuchten. Die 822 gegründete Abtei gehört nämlich zu den mittelalterlichen Klöstern, ohne die wir heute nichts über antike Philosophie und Geschichte wüssten. Denn: „Alles, was die antiken Schriftsteller mal aufgeschrieben haben, meist auf Papyrus-Rollen, ist nicht überliefert, sondern Mönche und Nonnen aus dem Mittelalter haben es aufgeschrieben und bewahrt“, erläutert Dr. Christiane Ruhmann, Kuratorin der großen Ausstellung im Diözesanmuseum Paderborn. Im Kontext dieser Überlieferung antiker Schriften „kann Corvey Weltgeltung für sich beanspruchen“, hatte sie die Weserabtei schon im Rahmen der „Zeitreise“-Vorträge anlässlich ihres 1200-jährigen Bestehens in eine Champions-League eingeordnet.
Abgeschrieben haben die Mönche und Nonnen in den Klöstern des Mittelalters auch nicht christliche, pagane Schriften. Cäsars gallische Kriege beispielsweise. Oder die Tacitus-Annalen. „Das alles ist im neunten Jahrhundert auch hier in Westfalen passiert“, erläutert die Kuratorin auf der Ausstellungs-Homepage in einem Interview. Und lenkt den Blick auch gleich wieder auf Corvey. Denn zur Gründungsausstattung dieses Klosters gehörte im 9. Jahrhundert eine Abschrift der Annalen des Tacitus. Aus Fulda war sie den Mönchen für die Erstausstattung ihres neuen Klosters an der Weser mitgegeben worden. Für die Ausstellung im Diözesanmuseum kommt die großartige Handschrift nun aus der Biblioteca Medicea Laurenziana Florenz.
Die Jahrbücher des berühmten römischen Historikers Tacitus thematisieren ein Ereignis, das alle Heimatforscher in Westfalen „elektrisiert“, so Christiane Ruhmann: die Schlacht im Teutoburger Wald, in der Arminius im Jahr neun nach Christus die Römer aus Westfalen vertreibt. Der Teutoburger Wald als Ort der Schlacht wird nur bei Tacitus erwähnt. Vor diesem Hintergrund ordnet die Kuratorin die Handschrift im Interview auf der Ausstellungshomepage als eines ihrer drei Highlight-Objekte unter den mehr als 120 Ausstellungsexponaten Exponaten von etwa 50 Leihgebenden aus ganz Europa und den USA ein.
Schlüsselwerk für die Corveyer Buchmalereischule
In diesem persönlichen Ranking steht auch für den Direktor des Diözesanmuseums, Dr. Holger Kempkens, ein Exponat mit Corvey-Bezug weit vorne. Aus der Bibliothek des Prager Domkapitels kommt eine im Corveyer Skriptorium zum Ende des 9. Jahrhunderts entstandene Handschrift nach Paderborn. An ihr zeigen sich, so Dr. Kempkens, sehr deutlich noch die antiken Wurzeln in der Buchmalerei, auf denen die Buchmaler des 9. Jahrhunderts aufbauen. Die nachfolgende Generation hat daraus einen eigenen Corveyer Buchmalerei-Stil kreiert. Insofern ist das in der Ausstellung gezeigte Evangeliar aus Prag „ein Schlüsselwerk für die Corveyer Buchmalereischule“, erläutert der Museumsdirektor im Interview. Eingefasst ist es mit einem kostbaren Buchdeckel samt antikem Elfenbein auf der Frontseite. Dieses ist, wie Dr. Kempkens berichtet, umgearbeitet worden: Aus einem zunächst dargestellten Konsul ist „durch geschicktes Umschnitzen“ der heilige Petrus geworden.
Professor Dr. Christoph Stiegemann, Vorgänger Kempkens als Chef des Diözesanmuseums und heute Kurator in Corvey, thematisiert in der Interview-Reihe auf der Ausstellungs-Homepage ein kostbares, in Corvey sichtbares Zeugnis der Antikenrezeption. Am Vorbau der Doppelturmfassade des Westwerks hängt eine Kopie der berühmten Grundsteintafel der ersten karolingischen Klosterkirche. Mit ihrer Inschrift – ausgeführt in der Capitalis Quadrata – steht sie ganz in der Tradition antiker Monumentalschriften. „Das alte Stadtmodell des mittelmeerischen Raumes ist transferiert worden in unwirtliche Landstriche“ – bis ans Ende der damaligen Welt. Davon kündet, exponiert am viel fotografierten Gesicht der Welterbestätte, die Kopie der Inschriftentafel: „Man sieht, was wir den Mönchen aus Corbie bis heute zu verdanken haben“, sagt Professor Stiegemann.
Jubiläum und Jahrestag der Welterbe-Anerkennung
Das Original der Tafel wird in der Ausstellung in Paderborn zu sehen sein. Weitere Exponate aus der Gründungszeit der Abtei kommen hinzu. Das 1200. Jahrestag der Klostergründung und die Welterbe-Anerkennung vor zehn Jahren sind Anlass für die Sonderausstellung. Sie trägt den Titel „Corvey und das Erbe der Antike. Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter“. Ein reich bebilderter Katalog erscheint mit der Eröffnung im Michael Imhof Verlag. Die Ausstellung steht unter der Schirmherrschaft von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.