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Zum letzten Mal auf den Spuren des Erbes der Antike

By 27. Januar 2025Februar 5th, 2025No Comments

Bevor die Sonderausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ am 26. Januar ihre Pforten schloss, hat die restauratorische Fachbauleitung für das karolingische Westwerk und die barocke Abteikirche der ehemaligen Reichsabtei am Weserufer, Karen Keller, einen Kreis Corvey-Interessierter im Diözesanmuseum Paderborn zusammengeführt. Der Direktor des Hauses, Dr. Holger Kempkens, brachte bei der Führung der Gruppe die kostbaren Exponate und ihre Zeugniskraft für die Antikenrezeption im frühen Mittelalter eindrücklich und impulsgebend zum Sprechen.

Museumsdirektor Dr. Holger Kempkens (Mitte) und Corveys Standortleitung Annika Pröbe (rechts) hießen die Gruppe in der Ausstellung willkommen. Fotos: Sabine Robrecht

Dieser großartige Kulturtransfer prägt unseren Alltag bis heute. Dafür nannte Dr. Kempkens zu Beginn der Führung ein prägnantes Beispiel: „Dass wir in lateinischer Schrift schreiben, ist ein Erbe der Antike.“

Wie die Weitergabe dieses Erbes funktioniert hat und welch große Rolle mittelalterliche Klöster dabei gespielt haben, entfaltete sich ausgehend von der 822 gegründeten Benediktinerabtei Corvey vier Monate lang anhand charismatischer Objekte, mehr als 120 an der Zahl, aus vieler Herren Länder. Die Schau hat zahlreiche Gäste angezogen. In den letzten Wochen hat der Andrang noch einmal richtig Fahrt aufgenommen. Das große Interesse freut das Team um Museumsdirektor Dr. Holger Kempkens und Kuratorin Dr. Christiane Ruhmann ebenso wie die Standortleitung Weltkulturerbe karolingisches Westwerk und Abteikirche Corvey am Diözesanmuseum, Annika Pröbe.

Blütezeit erlebt Renaissance

Die Historikerin wird nach Ende der Ausstellung zusammen mit Karen Keller und dem langjährigen Architekten der katholischen Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus Corvey, Albert Henne, die Rückreise der Corveyer Exponate koordinieren. Bei der Führung am vorletzten Ausstellungstag ließen alle drei die berühmte Inschriftentafel aus dem 9. Jahrhundert, das Wellenrankenfries aus der Scheitelkapelle der 844 geweihten ersten karolingischen Basilika, die Säule aus dem Johanneschor, die Fragmente der karolingischen Stuckfiguren aus diesem erhabenen Sakralraum und alle anderen Objekte aus Corvey ein letztes Mal im Kontext der Ausstellung auf sich wirken.

Diese Inszenierung hat seit September 2024 die Herzen vieler Corvey-Begeisterter höherschlagen lassen. Kaiser Ludwig der Fromme (778 – 840) hat das Reichskloster bei Höxter 822 in einem gerade erst von seinem Vater, Karl dem Großen (748 – 814), eroberten Gebiet gegründet. Mehr als 1200 Jahre später erlebte die damals begonnene Blütezeit in der Paderborner Ausstellung eine im besten Wortsinn aufsehenerregende Renaissance. Diesen Effekt erzielten nicht nur archäologische Zeugnisse, die aufgrund ihrer Beweglichkeit die Reise von der Weser an die Pader antreten konnten, sondern auch Befunde, die in situ, also in Corvey, von der Antikenrezeption im Mittelalter künden.

Diese Säule aus dem Johanneschor könnte auch direkt aus der Antike stammen. Tatsächlich haben Bildhauer sie im neunten Jahrhundert für den Johanneschor des Westwerks Corvey aus Sollingsandstein geschaffen.

Odysseus-Szene christlich umgedeutet

Zu letzteren gehört, allen voran, der karolingische Wandfries mit der berühmten Odysseus-Szene unter der Westempore des Johanneschores. Mediale Inszenierungen gleich im Eingangsbereich der Ausstellung und dann in der zweiten Abteilung ermöglichten dieser Wandmalerei in Paderborn einen Auftritt, der den Funken der Begeisterung für ihr Alleinstellungsmerkmal mit Weltgeltung neu entfachte. Diese 1958 aufgedeckte Wandmalerei legt bis heute als weithin einzige erhaltene mittelalterliche Darstellung Zeugnis darüber ab, wie – und vor allem warum – die antike Mythologie den Weg in eine christliche Kirche gefunden hat.

Die Corveyer Mönche haben die Szene aus der Odyssee christlich umgedeutet. Offen ist lediglich die Frage, ob die Ordensmänner den gegen die Skylla kämpfenden Odysseus als Erzengel Michael (dieser kämpfte gegen einen Drachen) oder als Christus selbst interpretiert haben.

Dieser griechische Klappspiegel mit der Darstellung des Meeresungeheuers Skylla stammt direkt aus der Antike (Staatliche Museen zu Berlin).

Der Wandmaler muss jedenfalls Vorlagen gehabt haben, nach denen er die heute noch zaghaft erhaltene Szene aufgebracht hat. Ein vortreffliches Beispiel für die Darstellung der Skylla – direkt aus der Antike – haben die Ausstellungsmacher dem Video zur Odysseus-Szene und der benachbarten Fahne mit dem Motiv an die Seite gestellt. Der Klappspiegel aus dem griechischen Kulturkreis zeigt in der Reliefzier des Deckels das fischschwänzige Meerungeheuer Skylla mitsamt dem Gürtel aus umherschnappenden Hundevorderteilen. Die Ähnlichkeit zur Corveyer Wandmalerei ist frappierend. „Dieser Spiegel war schon ungefähr 1000 Jahre alt, als die Wandmalerei in Corvey entstand – also ungefähr so weit entfernt wie Corveys Gründungszeit es heute von uns ist“, traf Dr. Kempkens bei der Führung eine Einordnung, über die nachzusinnen sich lohnt.

Erhaltene Stuckfragmente aus karolingischer Zeit ließen das mittelalterliche Corvey in Paderborn ebenfalls gegenwärtig werden. Die Überreste stammten von sechs lebensgroßen Stuckfiguren aus der ursprünglichen Ausgestaltung des Johanneschores. Eine großformatig gezeigte Rekonstruktion dieser Großplastiken kündete vor der Vitrine mit den Stuckfragmenten von ihrer Imposanz.

Die berühmte Inschriftentafel kehrt mitsamt der für die Ausstellung angefertigten Halterung nach Corvey zurück und bekommt einen würdigen Platz im Johanneschor, der Herzkammer des Welterbes.

Nicht nur in Teilen, sondern in Gänze hat sich die berühmte Inschriftentafel aus der Gründungszeit Corveys erhalten. Als eines der wichtigsten Werke der Antikenrezeption im neunten Jahrhundert hatte sie in der Ausstellung einen exponierten Platz am Modell der Dreiturmfassade, die das Westwerk der Abteikirche Corvey bis zur Umgestaltung unter Abt Wibald von Stablo im 12. Jahrhundert gewesen ist. 1100 Jahre lang war die Sandsteintafel an der Westfassade angebracht, bis sie 1985 aus konservatorischer Vorsicht ins Innere umzog und draußen durch einen Abguss ersetzt wurde.

Wie eine Himmelsvision

Die Buchstaben des Originals, ausgeführt in der antik-römischen Majuskelschrift Capitalis quadrata, waren vergoldet und müssen, so Holger Kempkens bei der Führung, auf Ankommende „wie eine Himmelsvision gewirkt haben“. Nachempfinden können die Besucher diesen Eindruck in der Dauerausstellung in Corvey: Im ehemaligen Kapitelsaal wird das Buchstabenplotting der Inschriftentafel in einer filmischen Inszenierung fesselnd visualisiert.

In den Kapitelsaal kehren auch die in Paderborn gezeigte Säule aus dem Johanneschor, der Wellenrankenfries aus der ersten Basilika, die vergoldeten Kupferbuchstaben einer heute verlorenen Inschrift aus der ersten Bauphase der Kirche und Wandfries-Fragmente aus der karolingischen Klosterkirche zurück. Die Inschriftentafel hingegen bekommt einen Platz im Johanneschor – der Herzkammer des Welterbes. Hier erfährt sie eine würdige Neupräsentation. Die für Paderborn angefertigte metallene Halterung kommt mit nach Corvey und findet dort eine weitere Verwendung. Somit erinnert die berühmte Sandsteintafel mit ihrem in Stein gemeißelten, dem kirchlichen Stundengebet entnommenen Segenswunsch für Kloster und Civitas demnächst an die Klostergründung und auch das strahlkräftige Paderborner Ausstellungsprojekt zu ihren Ehren.

Keine ausschließliche Corvey-Ausstellung

Die Sonderschau hatte das 1200-jährige Bestehen Corveys und auch das Zehnjährige der Welterbe-Anerkennung des Westwerks und des mittelalterlichen Klosterbezirks, der Civitas, zum Anlass. Eine reine Corvey-Ausstellung sollte die Schau aber nicht sein. Ausgehend vom Weserkloster weiteten die Macher den Blick und holten exponierte Beispiele für ihr Thema, die Antikenrezeption, aus dem In- und Ausland an die Pader. Handschriften aus den Skriptorien Corveys und anderer Klöster zeigten, dass die Mönche und Nonnen des Mittelalters Texte antiker Autoren kopierten und damit vor dem unwiederbringlichen Verlust bewahrten.

So wird eine der Stuckfiguren im Johanneschor ausgesehen haben: Die Rekonstruktion in der Ausstellung zeigte die Imposanz der Plastiken aus karilingischer Zeit.

Für eines der Exponate lieferte das Corvey der Gegenwart übrigens eine hilfreiche Anregung: So wie die Glaswand zwischen Westwerk und Abteikirche für die filmische Zeitreise ins Jahrtausend der Mönche auf Knopfdruck zu 95 Prozent blickdicht geschaltet werden kann, geschah es in der Ausstellung zum Schutz eines byzantinischen Seidenstoffs aus dem achten oder neunten Jahrhundert vor zu viel Lichteinwirkung: Gleich neben der berühmten Bärin aus der Vorhalle des Aachener Doms verbarg sich die lichtempfindliche Kostbarkeit hinter einer intelligenten Glasscheibe. Diese Scheibe wurde nur dann hell, wenn Besuchende auf den entsprechenden Knopf drückten.

Restauratorische Projekte

Materialkundliche und restauratorische Projekte hat die Ausstellung ebenfalls initiiert. Auch sie verleihen ihr einen Nachhall. Die mit dem Ausgangspunkt Corvey beschäftigten Fachleute der Führung am vorletzten Tag waren beeindruckt. Architekt Albert Henne wird die Schau als imposant in Erinnerung behalten: „Es ist eine Leistung, diese Vielzahl kostbarer Exponate aus dem In- und Ausland zusammenzuführen“, sagt er. Beim Rundgang mit Holger Kempkens und Annika Pröbe habe er viel Neues erfahren – auch über die bekannten Corveyer Exponate. Diese haben, so wie das Weserkloster selbst, jedes für sich so viel zu erzählen, dass auch Corvey-erfahrene Menschen immer wieder spannende Erkenntnisse gewinnen.

Dem Welterbe bei Höxter geht der „Stoff“ für Erkenntnisgewinne nie aus. Auch diesen Eindruck hat die Ausstellung in Paderborn sicher bei vielen Besuchenden hinterlassen.