„Wo sollte ein Bundespräsident am heutigen Tag sein, wenn nicht hier.“ Mit dieser klaren Feststellung unterstrich Staatsoberhaupt Frank-Walter Steinmeier beim Festakt zum 1200-jährigen Bestehen der ehemaligen Benediktinerabtei und heutigen Welterbestätte Corvey die Bedeutung dieses, wie er sagt, „monumentalen Ortes deutscher Geschichte“. Von Jugend an sei er dem Weserkloster – diesem „einzigartigen Denkmal der Kirchen- und Kulturgeschichte“ – verbunden.
Diese Verbundenheit, die er nicht nur empfinde, weil er in der Nähe aufgewachsen sei, war vom ersten bis zum letzten Moment seines knapp dreistündigen Besuchs spürbar. Der Bundespräsident bekannte sich am Rednerpult nachdrücklich zu seiner Faszination für Corvey. Und er zeigte sie, als der Kunsthistoriker Professor Dr. Christoph Stiegemann und die Historikerin Annika Pröbe zusammen mit den beteiligten Spezialisten des Fraunhofer-Instituts vor Ort die geplanten Augmented-Reality-Anwendungen für den Johanneschor des karolingischen Westwerks vorstellten. Mit großem Interesse nahm das Staatsoberhaupt nach den fesselnden Vorführungen selbst das Tablet zur Hand, auf dessen Bildschirm die Original-Ausgestaltung des erhabenen Sakralraums mit Hilfe einer eigens entwickelten App eindrucksvoll erblüht.
Am authentischen Ort werden die Besucher – wie der Bundespräsident es jetzt getan hat – mit einem Tablet eine fulminante virtuelle Renaissance der ursprünglichen Farbigkeit und bauplastischen Ausgestaltung des Johanneschores erleben. Wenn sie das Gerät auf die Rückwand der Orgel halten, eröffnet sich ihnen sogar ein Blick in die ebenfalls rekonstruierte karolingische Basilika.
Besondere Zeitreise
Diese besondere Zeitreise, bei der mehrere Erzählstränge im Angebot sein werden, können die Gäste ab der Saison 2023 unternehmen. „Von Engeln bewacht – die Himmelsstadt“: Schon mit dem Leitwort der multimedialen Erschließung greift das Kompetenzteam um Professor Stiegemann und Annika Pröbe die einzigartige Aura des karolingischen Westwerks auf und auch die Grundidee der Mönche für dieses der Kirche vorgelagerte Bauwerk mit seinem quadratischen Grundriss. Es sollte ein Abbild des himmlischen Jerusalems sein. Dass es als solches auch in seiner spirituellen Tiefe erfahrbar wird – davon waren Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, NRW-Bauministerin Ina Scharrenbach und die weiteren Gäste des Festaktes bei den ersten Einblicken überzeugt.
Begonnen hatte der Festakt, an dessen Datum (25. September) sich der Beginn des monastischen Lebens im Weserbogen bei Höxter zum 1200. Mal jährte, mit einer Besinnung auf die benediktinische Tradition dieses 822 von Mönchen aus Corbie begründeten Klosterortes. Weihbischof Dr. Dominicus Meier, selbst Benediktiner (OSB) und von 2001 bis 2013 Abt der Abtei Königsmünster in Meschede, gestaltete gemeinsam mit Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek und Abbé Jean-Marc Boissard aus Corbie einen festlichen Wortgottesdienst in der ehemaligen Abteikirche und betonte in seiner Ansprache, dass die ersten Mönche vor 1200 Jahren an die Weser gekommen seien, um aus der Ordensregel des Heiligen Benedikt heraus einen Lebensort zu gestalten und eine „Schule des Glaubens“ zu gründen. Die Abtei Corvey und ihre Klostergemeinschaft „prägten und prägen bis heute diese Region, unser Erzbistum und weit darüber hinaus“.
„Lernende in der Schule des Herrn“
Mönche seien in den Augen des Ordensgründers, des Hl. Benedikt, stets Lernende. Als solche hätten die Gründer der Abtei Corvey auf Gott als den Lehrmeister des Lebens vertraut. „So nur konnten sie wahrhaft Lehrende sein: weil sie in dieser Weise lernend blieben. Vertrauen wir am Anfang des 1200-jährigen Jubiläums ihrem Beispiel und werden Lernende in der ‚Schule des Herrn‘.“
Bestärkt von dieser Glaubenstiefe, die auch dank des Gesangs der Gregorianik-Schola Marienmünster-Corvey und der Solisten des Ensembles „ColVoc“ zu Herzen ging, und in froher Erwartung des Ehrengastes aus Berlin begaben sich die etwa 250 Gottesdienstbesucher zum Festakt in den Kaisersaal. Mit stehenden Ovationen begrüßten sie den Bundespräsidenten, als er begleitet von den Gastgebern, Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek und dem Herzog und der Herzogin von Ratibor, den Saal betrat.
Licht sollte weit leuchten
Viktor Herzog von Ratibor und Fürst von Corvey erinnerte daran, dass Frank-Walter Steinmeier – damals noch Außenminister – im Mai 2015 die offizielle UNESCO-Urkunde zur Eintragung Corveys in die Welterbeliste an die beiden Eigentümer übergeben hat. Die Welterbe-Anerkennung sei eine Ehre und gleichzeitig der Auftrag, Corvey als Erbe aller Menschen zu erhalten und in seiner geschichtlichen Bedeutung zu erschließen. Wesentliche Maßnahmen hätten bereits auf den Weg gebracht werden können. Die Kirchengemeinde setze mit den multimedialen Installationen im Westwerk Maßstäbe. In seinen Dank schloss der Herzog auch Kulturschaffende ein, die Corvey mit Hochkarätern wie dem Kunstfest „Via Nova“ ins Licht rücken.
Das Licht des vor 1200 Jahren gegründeten Klosters Corbeia nova „sollte sehr weit leuchten von diesem Ort, wo der Himmel die Erde berührt“, verwies Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek mit Bezug zu dem von Angelika Gabriel aus Borgentreich geprägten Jubiläumsmotto auf den Missionsauftrag der Benediktinermönche aus Corbie. An die „Dynamik des Anfangs“ erinnere nun das Jubiläumsjahr. Mit Unterstützung von Bund, Land und Erzbistum solle dieser Klosterort wieder erstrahlen wie zu seiner Blütezeit.
Weg, der bis ins Heute führt
Jener Anfang vor 1200 Jahren sei „der Beginn eines Weges, der bis ins Heute führt“, hob Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hervor. „Von Corvey gingen die Mönche im 9. Jahrhundert hinaus in eine Welt politischer Wirren, aber sie taten es selbstbewusst, ihrer Grundlagen sicher, des Ortes gewiss, der ihr Ausgangspunkt war und der ihnen inneren Halt gab. Corvey war eben nicht nur Ort im geografischen Sinne, es stand auch für einen Geist und einen Wertekanon, den die Mönche in verschiedene Teile Europas trugen.“
Corvey sei jetzt die Brücke zu einer Vergangenheit, „die uns heute noch etwas sagen kann“, betonte der Bundespräsident. Das sei der Grund dafür, dass die weit sichtbaren Kirchtürme die Menschen nach wie vor anziehen. „Ich bin überzeugt: Gerade jetzt, in dieser Zeit des Krieges, der Krisen, der Veränderungen und Verunsicherungen, gerade jetzt brauchen wir solche Orte.“ Ob es der Glaube sei oder Sehnsucht nach Begegnung und Zusammenhalt: Für all das sei Corvey eine geistige und kulturelle Kraftquelle. Die Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus Corvey habe diese Verbindung von Geist und Alltag in einem wunderbaren Satz ausgedrückt. „1200 Jahre Corvey – wo der Himmel die Erde berührt.“
„Ein besseres Motto hätte man nicht finden können“, sagte auch NRW-Bauministerin Ina Scharrenbach. Corvey sei bedeutend für religiöse und politische Prozesse in weiten Teilen Europas gewesen. Wie auch der Bundespräsident erinnerte die Ministerin an August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, der von 1860 bis zu seinem Tod 1874 Bibliothekar in Corvey war und auf dem Friedhof hinter der Abteikirche begraben liegt. 1841 hatte er auf Helgoland „aus Sehnsucht nach Einheit in schwieriger Zeit“, so Scharrenbach, das „Lied der Deutschen“ geschrieben. Seit 2014 sei Corvey als Erbe der Menschheit den Generationen anvertraut, betonte die Ministerin. Für das Jubiläumsjahr brachte sie ihren Wunsch zum Ausdruck, dass viele Menschen der „Einladung in die Himmelsstadt“ folgen.
Über die Gründungszeit dieses Leuchtturms liegen gesicherte Daten vor. Das sei für die Frühzeit des Christentums in Sachsen ausgesprochen selten, konstatierte Professor Dr. Christoph Stiegemann, Leiter des wissenschaftlichen Kompetenzteams der Kirchengemeinde, als er den Festredner des Tages, Professor Dr. Elmar Salmann, vorstellte. Der renommierte Wissenschaftler ist ebenfalls Benediktiner. Im Hinblick auf Corveys Anfänge erinnerte er daran, dass die Gründung des Klosters dem Wandertrieb des Mönchtums zu verdanken sei. Denn: „Das Christentum ist nicht im Teutoburger Wald erfunden worden.“ Die Mission, zu der Corveyer Mönche wie Ansgar aufbrachen, sei „immer auch ein kleiner Kuhhandel“ gewesen. „Daraus entwickelte sich Großes.“
Geheimnis trägt man in sich
Mit einer der Grundfragen der Theologie – ob sich in Christus der ewige Logos inkarniert hat oder ob Jesus mit der Taufe im Jordan zum Sohn Gottes adoptiert worden ist – regte der Festredner zum Diskurs an, der in Corvey im Verlauf des Jahrtausends der Mönche sicher auch oft geführt worden ist. Den Effekt unauflösbarer Geheimnisse wie diesem brachte Professor Salmann mit einem Bild auf den Punkt: „Das gelöste Kreuzworträtsel wirft man weg. Das Geheimnis trägt man in sich.“
Gedanken wir diese nahmen die Gäste mit zum Empfang, der sich an den vom Klarinetten-Sextett des Herresmusikkorps Kassel würdig und facettenreich mitgestalteten Festakt anschloss und Gelegenheit zum Austausch gab. Eine Delegation aus Corbie war zu Gast und bekräftigte mit ihrem Besuch die Verbundenheit zu Corvey und die fast 60 Jahre währende Freundschaft mit der Partnerstadt Höxter.
Talkrunde
In einer Talkrunde mit Jutta Maria Loke schilderten fünf Gesprächspartner, was Ihnen Corvey bedeutet. Alexandra Herzogin von Ratibor und Fürstin von Corvey machte den Anfang. Bevor sie die Frage „Lust oder Last?” beantwortete, gewährte sie den Zuhörenden Einblicke in den Familienalltag. Die Herzogin lebt seit nunmehr 24 Jahren in Corvey. Daher sei das Schloss in erster Linie ihr Zuhause und das Zuhause ihrer Kinder. Die Küche sei das Zentrum des Hauses. Hier treffe sich die Großfamilie. „Daher bin ich hier am liebsten.” Ein weiterer Lieblingsort sei aber auch die Kirche. „Momente der Stille geben mir hier Kraft.”
Corvey zu erhalten und den Menschen zugänglich zu machen, sei natürlich eine große Verantwortung, konstatierte die Herzogin. Es gebe aber nichts Schöneres, als zu sehen, wie viele Menschen sich etwa bei Kulturveransgtaltungen an Corvey und seiner Aura erfreuen. Daher sei es keine Last, dieses Juwel in die Zukunft zu führen, sondern eine erfreuliche Aufgabe – „nicht immer leicht, aber schön”.
Weihbischof Dr. Dominicus Meier – seit 40 Jahren Benediktiner und zwölf Jahre Abt in Königsmünster bei Meschede – verbindet mit Corvey einen Namen: Bruder Adelhard Gerke (1930 – 2017). Der gebürtige Höxteraner und Benediktinermönch kannte die Geschichte Corveys bis ins kleinste Detail und hat seine Erkenntnisse in verschiedenen Publikationen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Bruder Adelhard gehörte dem Konvent der Abtei Königsmünster an. Generationen von Novizen erinnern sich lebhaft an die Ausflüge mit ihm nach Corvey. „Auch mir hat er gesagt ‘Wir müssen nach Corvey. Dann hast Du das Wesentliche Deiner Ausbildung absolviert’.” Wenn man mal still nach Corvey komme, nicht als Weihbischof, sondern den Ort wie andere Menschen erlebe, dann spüre man, dass hier das Herz schlage. „Ich würde mir wünschen, dass das Erzbistum mehr solcher Lebensorte – Orte wie Corvey – hätte.”
„Herzstück der Klosterregion Kreis Höxter” und „Mahnmal für ein friedliches Miteinander in Europa”: Das ist Corvey für Landrat Michael Stickeln. Die ehemalige Benediktinerabtei sei im Hinblick auf Frieden nicht nur ein Mahnmal, sondern auch ein Ort der Hoffnung. Und mit der Klosterregion, in dessen Mitte die Welterbestätte erstrahlt, sei ein Superlativ verbunden: Mit 26 Klöstern und klösterlichen Einrichtungen habe der Kreis Höxter die größte Klosterdichte bundesweit.
Bürgermeister Daniel Hartmann ließ seiner Begeisterung freien Lauf: „Ich bin beeindruckt, wenn ich durch das Portal trete.” Corvey sei ein Ort, der Emotionen wecke – und das nicht nur bei ihm. Ereignisse wie das Kunstfest Via Nova und das Gartenfest verbinden die Menschen mit Corvey. „Viele Paare heiraten in der ehemaligen Abteikirche.” Bei der Landesgartenschau 2023 spiele die ehemalige Benediktinerabtei eine wesentliche Rolle. Und auch das sei wiederum emotional.
Das letzte Wort hatte ein Corvey-Kenner, der dem Ort mit Herz und Seele verbunden ist und der die Menschen mit großer Überzeugungskraft für die christliche Substanz dieses Leuchtturms sensibilisiert: Josef Kowalski, geschäftsführender Vorsitzender des Kirchenvorstandes. „Die Mönche, die vor 1200 Jahren nach Corvey kamen, waren beseelt. Sie waren Überzeugungstäter.” Trotz Höhen und Tiefen sei Corvey ein Kontinuum der Christlichkeit geblieben. Die ehemalige Benediktinerabtei sei ein lebendiger christlicher Ort.
Die Begeisterung der Mönche von damals „brauchen wir heute für die Weiterentwicklung Corveys. Wir können nicht nur bewahren. Es muss auch eine Weiterentwicklung geben”. Gelingen müsse es auch, dass der bedeutende Erinnerungsort mit seiner 1200-jährigen Geschichte in den Schulen eine Rolle spiele. „Wir müssen Begeisterung schaffen. Dann meistern wir so manches Problem der heutigen Zeit”, schloss Josef Kowalski unter dem Beifall der Zuhörenden seine Hommage an Corvey.
Weiterführende Links
Der Livestream zum Festakt war ein Erfolg. Er hatte 24 Stunden nach der Übertragung mehr als 2750 Aufrufe. Zu sehen ist er unter diesem Link.
Die Rede des Bundespräsidenten finden Sie zum Nachlesen unter diesem Link.
Fotos der Bildergalerie: Besim Mazhiqi