Zum Endspurt der bis zum 26. Januar laufenden großen Sonderschau „Corvey und das Erbe der Antike“ richten wir den Blick noch einmal nach Paderborn – konkret in die letzte Ausstellungsabteilung. Diese trägt die Handschrift eines der innovativsten Kalligraphen der Gegenwart, Brody Neuenschwander. Der Künstler macht die Vielfalt der Schriftkulturen in eindrucksvollen Rauminterventionen erlebbar.
Seit Jahren schon dem Diözesanmuseum verbunden, kennt sich amerikanisch-belgische Schriftkünstler und Kunsthistoriker auch mit Corvey, dem Ausgangspunkt der großen Ausstellung, aus. Bei einer Performance vor einigen Jahren ließ er an einem charismatischen Ort des Weserklosters, dem Johanneschor im Obergeschoss des karolingischen Westwerks, die Kunstfertigkeit der Mönche im mittelalterlichen Skriptorium fesselnd aufleuchten. Später dann entwarf der Kalligraph aus Brügge die Verdienstmedaille, mit der die katholische Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus herausragendes Engagement für Corvey würdigt.
Überreicht worden ist die Auszeichnung bislang an zwei verdiente Persönlichkeiten: Josef Risse für sein 18 Jahre währendes engagiertes Wirken im Kirchenvorstand (2023) und Dr. Birgitta Ringbeck, Motor der erfolgreichen Welterbe-Bewerbung Corveys, für ihren maßgeblichen Anteil am Aufstieg Corveys in den Olymp der UNESCO-Welterbestätten (2024).
Die Verdienstmedaille „made by Brody Neuenschwander“ zeigt auf der Vorderseite die Ansicht des berühmten karolingischen Westwerks vor dem bekannten Monogramm Karls des Großen, auf dessen Initiative die Gründung des Klosters am Weserbogen zurückgeht. In der Umschrift wird das Motto des Jubiläumsjahres 2022/23 zitiert: „1200 Jahre Corvey – Wo der Himmel die Erde berührt“. Die Rückseite zeigt die lateinische Inschrift der berühmten Gründungstafel der karolingischen Kirche aus der Zeit um 844: „Zieh einen Ring um jene Stadt, o Herr, und lass deine Engel die Wächter ihrer Mauern sein.“
Angebracht an die rekonstruierte Dreiturmfassade, die das Westwerk einst war, führt das kostbare Original dieser Inschriftentafel die Gäste in der Paderborner Sonderausstellung an exponierter Stelle in die Zeit der Klostergründung Corveys hinein. Dann erleben Bibliothek und Skriptorium eine Renaissance, weil Handschriften aus Corvey oder mit Bezug zum ehemaligen Benediktinerkloster zu sehen sind. In vieler Herren Länder verstreut, haben die Ausstellungsmacher die kostbaren Codices zusammengeführt.
Passagen der Tacitus-Annalen kopiert
Sie legen ebenso wie die einzigartige Inschriftentafel mit der antik-römischen Monumentalschrift Capitalis Quadrata Zeugnis von der Antikenrezeption im Mittelalter ab, für die Corvey Weltgeltung für sich beanspruchen kann. Deshalb ist das 822 gegründete Kloster Ausgangspunkt der glanzvollen Ausstellung in Paderborn.
Zur Erstausstattung der Abtei gehörten damals die berühmten Tacitus-Annalen, die die Varusschlacht im Teutoburger Wald lokalisieren. Aus der Biblioteca Medicea Laurenziana Florenz sind sie nach Paderborn gekommen. Neben der Vitrine mit dieser Handschrift begegnen die Gäste an einer Medienstation der Kunst Brody Neuenschwanders. Er hat Passagen der Annalen kopiert. Und sich dabei filmen lassen.
„Die Kalligraphie im Film ist die Kalligraphie im Buch“, erläutert der Künstler in einem Videointerview auf der Ausstellungshomepage. Die Betrachtenden haben beim Blick auf die Medienstation den Eindruck, dass sich der Entstehungsprozess der Handschrift vergegenwärtigt. Das soll auch so sein. Brody Neuenschwander möchte den Gästen das Gefühl vermitteln, dass sie dem Schreiber von damals „über die Schulter schauen“. „Auf diese Weise kann man sich in den historischen Kontext hineinversetzen“, sagt der Kalligraph. Er möchte, wie er sagt, „die Objekte zum Leben erwecken.“
Ein anderes Anliegen sei, „Bedeutung und Kontext zu vermitteln“. „So habe ich eine Kalligraphie angefertigt, die dann auf große Banner gedruckt und im Ausstellungsraum aufgehängt wurde. Dort sieht man dann in einem größeren Maßstab, was man in einem sehr kleinen Maßstab sehen würde. Oder ich habe in manchen Fällen einen lateinischen Text auf Deutsch geschrieben in der Schrift des Mittelalters. So bekommt man das Gefühl eines mittelalterlichen Buches, aber in einer Sprache, die man lesen kann“, erläutert Brody Neuenschwander.
Assoziativ, meditativ und auch poetisch
In der letzten Abteilung greift er eines der großen Themen der Ausstellung auf: den kostbaren Wandmalereifries mit Szenen der Odyssee im Johanneschor des Westwerks. „In kalligrafischen Interventionen verfolgt er das erstmals im zwölften Gesang der Odyssee schriftlich niedergelegte Abenteuer des Aufeinandertreffens des Helden Odysseus mit der reißenden, hundskopf-gegürteten Skylla – jene Szene, die in der Wandmalerei in Corvey ins Bild gesetzt wurde“, berichtet Ausstellungskuratorin Dr. Christiane Ruhmann. Die Interventionen Neuenschwanders seien „assoziativ, meditativ und auch poetisch, wollen nicht belehren, sondern faszinieren und vermitteln doch eindrücklich wiederum das Ausstellungsthema der vielgestaltigen Weitergabe der Antike – bis in die heutige Zeit“.
Ein Mysterium, so Neuenschwander im Videointerview, bleibe für ihn, wie gut die Mönche des neunten Jahrhunderts die antiken Inschriften verstanden. „Sie hatten keine Vorkenntnisse, aber konnten schauen, analysieren und verstehen, was etwa 500 Jahre zuvor vor sich gegangen war.“
Technik in Buch übertragen
Dieses Verständnis zeige sich in einem Fuldaer Manuskript aus dem neunten Jahrhundert, erläutert der Kalligraph. Die Buchstaben basierten auf den Schriftzeichen, die die Römer für ihre Inschriften in Stein gehauen hatten. Die Fuldaer Handschrift sei aber nicht nur eine einfache Nachahmung. „Die Mönche hatten die Geometrie dieser früheren römischen Artefakte studiert und wirklich verstanden, was sie da vor sich hatten“, sagt Neuenschwander. „Sie analysierten die Struktur der Buchstaben, sahen sich die Technik an, mit der die römischen Inschriften in Stein gemeißelt wurden, und erkannten, wie sie diese Technik mit einem Stift in ein Buch übertragen konnten. Eine erstaunliche und bewusste Studie und Übertragung der spätrömischen Schriftkultur nach Deutschland im neunten Jahrhundert.“ Und ein „beeindruckender Aspekt der Weitergabe, der Wiederentdeckung dieses antiken Erbes.“
Dieser und weiteren Facetten der Antikenrezeption nachzuspüren, lohnt sich. Bis zum 26. Januar ist im Diözesanmuseum noch Gelegenheit. So lange entfaltet sich im Diözesanmuseum ein Kulturtransfer, der in Westeuropa die Weichen für eine christlich-kulturelle Prägung gestellt hat.