Das mittelalterliche Corvey erwacht im Schatten des Hohen Doms zu Paderborn zu einer neuen Blüte. Die große Sonderausstellung im Diözesanmuseum Paderborn lässt das Weserkloster in seiner großen Bedeutung und Strahlkraft geradezu lebendig werden.
Die Besuchenden werden empfangen von der berühmten Inschriftentafel aus der Gründungszeit des Klosters Corvey. Die Ausstellungsmacher haben sie wirkungsvoll in Szene gesetzt und an die rekonstruierte Dreiturmfassade angebracht, die das Westwerk einst war. So muss es damals gewesen sein, denken sich Gäste, die die heutige Doppelturmfront im Kopf haben.
Erhebend auch die Renaissance der berühmten mittelalterlichen Klosterbibliothek Corveys. Deren erhaltene Bestände sind in alle Welt verstreut. Für die Ausstellung sind einige hochkarätige Handschriften nach Paderborn angereist.
Der Rundgang führt aber auch in andere westfälische Klöster, die mit Corvey einen großen Verdienst teilen: die Überlieferung antiken Wissens und antiker Texte.
Genau darum geht es in dieser großartigen Ausstellung, wie der Titel „Corvey und das Erbe der Antike. Kaiser, Klöster und Kulturtransfer im Mittelalter” schon sagt: Ausgehend vom 822 gegründeten Kloster und heutigem UNESCO-Weltkulturerbe am Weserstrand entfaltet sich in den Museumsräumen anhand der 120 charismatischen Exponate die Antikenbegeisterung des frühen Mittelalters. Die Schau zeigt, wie antikes Wissen und Kultur über das Mittelalter bis in die Gegenwart gelangten und noch heute unsere europäische Gesellschaft prägen.
Mit diesem ausgiebigen Foto-Rundgang empfehlen wir den Besuch der bis zum 26. Januar 2025 zu sehenden Ausstellung in Paderborn. Ein Sonntagsausflug nach Corvey rundet die Erlebnis-Zeitreise ins alles andere als finstere Mittelalter ab. Denn Westwerk und Kirche sind bis 26. Januar 2025 jeweils sonntags von 10 bis 14 Uhr geöffnet.
Gleich beim Betreten der Ausstellung ist Corvey präsent: Der Blick richtet sich hinauf zur Inschriftentafel aus der Gründungszeit des Weserklosters. Die Ausstellungsmacher zeigen das Westwerk, an dessen Fassade die Platte aus Sollingsandstein angebracht war (heute hängt dort eine Kopie), in seiner ursprünglichen Baugestalt als Dreiturmfassade. Die Silhouette links erinnert an den Stifter des Klosters, Ludwig der Fromme. Die Inschriftentafel bekommt nach der Ausstellung mitsamt der Halterung einen Platz im Johanneschor des Westwerks.
Fragmente vom Sarkophag Ludwigs des Frommen (gestorben am 20. Juni 840) sind in der Sonderausstellung „Corvey und das Erbe der Antike“ im Diözesanmuseum Paderborn zu sehen. Die Reliefs sind aus dem Musée de La Cour d’Or in Metz angereist.
Die berühmte Odysseus-Szene aus dem Johanneschor macht Corvey in der Ausstellung ebenfalls gegenwärtig. Großflächig an eine Wand projiziert, werden die Konturen der Figuren vor den Augen der Zuschauenden nachgezeichnet.
Schutz- und Immunitätsbrief Kaiser Ludwigs des Frommen für das Kloster Corvey vom 27. Juli 823, ausgestellt in der Pfalz Ingelheim. Diese Urkunde ist das älteste im Original erhaltene Rechtsdokument für Corvey. Das Kloster wird direkt unter den Schutz Ludwigs gestellt und damit dem Einfluss lokaler Adeliger entzogen. Das Pergament mit aufgedrücktem Wachssiegel (antike Gemme) befindet sich im Eigentum des Landes NRW und wird im Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen, in Münster aufbewahrt.
Ebenfalls aus dem Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen, in Münster sind diese Urkunden-Abschrift des Fundationsbriefs Ludwigs des Frommen in einer Sammelhandschrift des 10. Jahrhunderts (links) und die für Forschende so aufschlussreichen Corveyer Annalen (8. bis 12. Jahrhundert) zur Ausstellung nach Paderborn gekommen.
Diese Säule mit korinthischem Kapitell stammt aus dem Johanneschor des karolingischen Westwerks Corvey. “Das Kapitell ist übrigens nicht das qualitätsvolle Beispiel für Antikenrezeption in der Steinmetzkunst in Corvey”, infoirmieren die Ausstellungsmacher. “Das Gewölbe im Erdgeschoss des Westwerks selbst wird noch heute durch wunderbar gearbeitete korinthisierende Kapitelle getragen.”
Antikes Wissen, in diesem Fall über Architektur, Wandmalerei und Farbenherstellung, hat sich durch die Abschrift von Texten in den Klöstern des Mittelalters überliefert. Dieses Pergament gehörte zur Klosterbibliothek Corveys, als 873 bis 885 das Westwerk errichtet und mit kunstvollen Wandmalereien ausgestattet wurde. Wahrscheinlich haben sich die Erbauer in diesem Buch Anregungen geholt. Es befindet sich heute in Besitz der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel.
Dieser griechische Klappspiegel mit der Darstellung des Meerungeheuers Skylla stammt aus der Antike, um 320 vor Christus. Entliehen aus den Staatlichen Museen zu Berlin, zeigen die Ausstellungsmacher diesen meisterlich gefertigten Spiegel, weil man gleich erkennt, dass die Mönche des Klosters Corvey dieses antike Motiv vor fast 1200 Jahren für ihre Wandmalerei im Johanneschor übernommen haben.
Die erhaltenen Bestände der Corveyer Klosterbibliothek sind in alle Winde verstreut. Für die große Sonderausstellung im Diözesanmuseum hat das Team jetzt wertvolle Bücher zusammengeholt. So erblüht die Klosterbibliothek der Weserabtei. Sie erzählt natürlich auch von der Antikenrezeption. Zur Erstausstattung des 822 gegründeten Weserklosters gehörten die berühmten Tacitus-Annalen, die die Varusschlacht im Teutoburger Wald lokalisieren und aus der Biblioteca Medicea Laurenziana Florenz gekommen sind. “Varus, gib mir meine Legionen wieder”: Der Schriftkünstler und Kalligraph Brody Neuenschwander ließ sich bei einer Performance für diese Medienstation zu den Tacitus-Annalen filmen.
Kleines Evangeliar aus dem Stift Essen, Corvey, um 920/930 (Domschatz Essen). Es enthält die vier Evangelien. Diese wurden in Corvey in der karolingischen Minuskelschrift wohl von einem einzigen Schreiber niedergeschrieben. Forschende haben herausgefunden, dass der Schreiber seine Ausbildung in Corvey erhielt. Seine Handschrift lässt sich in weiteren Codices der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts nachweisen. Das zweite Foto zeigt ein Corveyer Evangeliar aus der Zeit um 840/45. Es ist das älteste seiner Art und möglicherweise auch eines der ersten Bücher, das im Corveyer Skriptorium selbst entstand. Der kostbare Codex hatte keine weitere Anreise. Er befindet sich in Besitz der Erzbischöflichen Akademischen Bibliothek Paderborn.
Eine besondere Kostbarkeit der Ausstellung ist das Prager Evangeliar. Die Handschrift war im 10. Jahrhundert Teil der Bibliothek des Klosters Corvey. „Ob es dort auch entstand, ist bis heute unklar“, erläutern die Paderborner Ausstellungsmacher. „Die kostbare Handschrift wurde in jedem Falle zum Vorbild für die in Corvey aufblühende Buchmalerei-Schule.“ Jedem der vier Evangelien stehen Zierseiten voran. Um nicht zu lange dem Licht ausgesetzt zu sein, müssen die Seiten regelmäßig umgeblättert werden. Die Elfenbeintafel des Einbands war einst Teil eines Konsulardiptychons aus dem 5. Jahrhundert. Die Darstellung des Konsuls wurde im Mittelalter in eines des Apostels Petrus umgewandelt. Das Evangeliar kam wahrscheinlich schon im Jahr 973 als Geschenk ins neu gegründete Bistum in Prag, als der aus dem westfälischen Gebiet der Saxones stammende Mönch Detmar dort Bischof wurde. Die Handschrift wurde Teil des Schatzes im Prager Dom und im 14. Jahrhundert von Karl IV. zum Krönungsevangeliar für die böhmischen Könige bestimmt. Das Metropolitankapitel St. Veit in Prag hat das kostbare Evangeliar nach Paderborn entliehen.
Die berühmte Burse von Enger aus der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts und ein Sirenen-Aquamanile aus der Zeit um 1230 (Kunstgewerbemuseum der Staatlichen Museen zu Berlin) gehören zu den bedeutenden Exponaten der Ausstellung in Paderborn. Die Burse von Enger iat das heute bekannteste Stück aus dem ehemaligen Stiftsschatz der Kirche von Enger/Herford und zugleich eines der bedeutendsten Werke frühmittelalterlicher Goldschmiedekunst. Vor der Ausstellung konnten das Diözesanmuseum Paderborn und das Kunstgewerbemuseum Berlin ein gemeinsames Projekt zur Restaurierung und Erforschung der Burse von Enger realisieren.
Eindrucksvoll: Blick von oben auf Westwerk und Inschriftentafel der ehemaligen Klosterkirche von Corvey, dem Ausgangspunkt der großen Ausstellung.
Zu den Exponaten aus westfälischen Klöstern gehört auch diese Papyrusurkunde aus dem Jahr 891 für das Hochadelige Freiweltliche Damenstift Neuenheerse: Mit dieser Urkunde bestätigte Papst Stephan V. dem Stift auf der Basis älterer königlicher, synodaler und privater Schenkungsurkunden und Privilegien alle Rechte und Besitzungen. Die Urkunde ist aus dem NRW-Landesarchiv, Abteilung Westfalen, in Münster nach Paderborn gekommen.
Diese Kostbarkeit zeigt einen karolingischen Bergkristall-Steinschnitt aus der Zeit um 900, der in der Spätgotik (15./16. Jahrhundert) als zentraler Stein in ein Standkreuz eingefügt wurde. Dieser Bergkristall gehört zu den am kunstvollsten ausgeführten Steinschnitten der Karolingerzeit. Insgesamt haben sich nur 20 Exemplare erhalten, die oft eine Kreuzigungsszene zeigten. Das Kreuz kommt aus den Städtischen Museen Freiburg. Das Foto unten zeigt rechts die Essener Lilienkone – ein Meisterwerk ottonisch-salischer Goldschmiedekunst (Domschatz Essen).
Abt Wibald von Stablo und der zweiten Blüte Corveys ist eine weitere Ausstellungseinheit gewidmet. Zu den Exponaten gehört der Liber Vitae aus dem Kloster Corvey. Der Codex stammt aus der Zeit um 1154. Die Gesamtanlage der Handschrift mit ihren drei Teilen steht offenbar in Zusammenhang mit der Rangerhöhung Abt Wibalds mit bischöflichen Insignien 1154 und 1155 durch die Päpste Anastasius IV. und Hadrian IV.
Blick auf die Medaillons und die beiden metallenen Leisten mit Inschriften: Sie sind Überreste des untergegangenen Remaklus-Retabels.
Die Ausstellung endet in der Gegenwart und macht auch Bekanntschaft mit dem Schaffen des international renommierten Kalligraphiekünstlers Brody Neuenschwander.
Noch ein Stück Gegenwart: Die berühmte Corveyer Inschriftentafel gibt es im Museumsshop als Radiergummi.