„Erbe erhalten – Zukunft gestalten“: Dieses Leitwort des UNESCO-Welterbetages 2022 bringt eine zentrale Aufgabe für bedeutende Stätten auf den Punkt. In Corvey stellt sich ein versiertes Team aus Wissenschaftlern, Restauratoren und Baufachleuten dieser großen Herausforderung. Wie – das haben viele Gäste beim Welterbetag erfahren. In verschiedenen Themenführungen verschafften sie sich aufschlussreiche Eindrücke von den Besonderheiten der einzigen Welterbestätte in Westfalen, von der Sicherung der sensiblen Bausubstanz aus der Erbauungszeit des 1200 Jahre alten ehemaligen Benediktinerklosters und auch von den vielversprechenden Planungen zur lebendigen Erschließung dieses großen Erinnerungsortes.
Dass dieses Kulturdenkmal bis heute ein Ort des Glaubens ist, war spürbar an diesem Welterbetag. Denn er fiel auf den Pfingstsonntag. Viele Gläubige hatten, als die Führungen begannen, gerade den Festgottesdienst mit einer inspirierenden und ermutigenden Predigt von Pastor Tobias Spittmann gefeiert.
Die Aufbruchsstimmung, die von dem Gottesdienst und vom Pfingstfest generell ausging, passt gut zur Welterbestätte an der Weser. Denn die Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus steuert auf den Beginn des Jubiläumsjahres „1200 Jahre Corvey“ zu.
Im Vorfeld dieses Jahrestages ist baulich und restauratorisch viel geschehen, erläuterten Annika Pröbe vom wissenschaftlichen Kompetenzteam der Kirchengemeinde, Karen Keller (restauratorische Fachbauleitung im Westwerk) und Architekt Albert Henne. Ihre Führungen vermittelten einen Eindruck davon, was es bedeutet, Kostbarkeiten wie die karolingischen Wandmalereien in der Erdgeschosshalle des Westwerks und oben im Johanneschor zu sichern und zu erhalten.
Diese Aufgabe fällt ins Ressort von Karen Keller. Im Johanneschor, der Herzkammer des Welterbes, richtete sie den Blick der Gäste aber auch nach oben – auf die renaissancezeitlichen Stuckdecken. „Sie sind gereinigt und konserviert worden.“ Im Quadrum entfaltet sich die besondere Eleganz der flachen stuckierten Balkendecke in mehr als neun Metern Höhe. Um 1586 entstanden, gehört sie zu den frühesten der Weserrenaissance.
Albert Henne, der das Westwerk und die Abteikirche seit 2004 für die Kirchengemeinde betreut, informierte über die umfassenden Arbeiten, die schon vor der Welterbe-Anerkennung 2014 auf der Agenda gestanden hatten. Dazu gehörte die Restaurierung von Holzschäden in den beiden Türmen des Westwerks. Begeisterung weckte er auch für das, was die Erbauer des Westwerks und der Barockkirche ohne die technischen Möglichkeiten von heute zu leisten imstande waren. Als ein Beispiel verwies er vor Ort in der Erdgeschosshalle des Westwerks auf die Genauigkeit, mit der die Bauschaffenden der Karolingerzeit die quadratischen Pfeiler gearbeitet haben.
Die korinthischen Kapitelle der Rundsäulen – großartige Schöpfungen der karolingischen Renaissance – nahm der Architekt mit seinen Gästen ebenfalls in den Blick. Und er erläuterte, dass die Natursteinoberflächen der Schäfte der Rundsäulen vor zwei Jahren von einem Anstrich aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts befreit worden sind. Kurze Zeit später ist im Südseitenschiff der Erdgeschosshalle die flache Lehmputzdecke rekonstruiert worden.
All diese Arbeiten, das konnten die Besucherinnen und Besucher bei den Führungen nachvollziehen, bedurften angesichts der Bedeutung der Bausubstanz einer intensiven interdisziplinären Abstimmung. Deshalb ließen sie sich nicht im Expressverfahren umsetzen.
Aktuell betreut Albert Henne den Einbau der Glaswand, die das Westwerk von der barocken Abteikirche trennt und im Zuge der multimedialen Präsentation der Klostergeschichte als Projektionsfläche dient. Innerhalb eines Staubschutz-Korridors laufen gerade die vorbereitenden Arbeiten. Diese spektakuläre Baustelle konnten die Welterbetags-Besucher in Augenschein nehmen – Erläuterungen inklusive.
Über die weiteren Forschungen und sensationelle Entdeckungen wie die Sinopien im Johanneschor und die ihnen zugeordneten 35 Stuckfragmente berichtete Annika Pröbe, die den Welterbetag in Corvey organisiert hatte, bei ihren Führungen. Die Historikerin zeigte eindrucksvoll auf, wie die Wissenschaft sich aus archäologischen Befunden und schriftlichen Überlieferungen ein Bild macht. Das zweigeschossige Atrium vor dem Westwerk beispielsweise, an das heute Pflasterstreifen erinnern, ist bei Ausgrabungen zutage getreten. Schriftliche Quellen geben Aufschluss über sein Aussehen. Wie weit es nach Westen vorstieß, ist allerdings bis heute nicht bekannt.
Vorfreude weckte Annika Pröbe auf die multimediale Erschließung des Westwerks. Digitale Tools lassen die Farbigkeit des Westwerks, von der Farbpigmentreste am Eingangsportal und fragmentarisch erhaltene Wandmalereien im Innern einen zaghaften Eindruck vermitteln, in Wechselwirkung mit dem authentischen Ort neu erblühen. Architektur, Ausmalung und Bauplastik erleben ohne Eingriff in die Originalsubstanz eine wirkkräftige Renaissance. Die Welterbetags-Führungen ließen die Besucher in froher Erwartung aufhorchen.
Führung außerhalb der Klostermauern
Diese Erwartungsfreude begleitete die Gäste bis vor die Klostermauern, wo Annika Pröbe und der Archäologe Ralf Mahytka ihnen einen weiteren Anziehungspunkt – die 1190 gegründete und 1265 schon wieder versunkene Stadt Corvey – vorstellten. Im Zuge der Landesgartenschau 2023 wird dieses „Pompeji von Westfalen“ erlebbar. Erste Eindrücke vermittelt der rekonstruierte Grundriss der Marktkirche. Von dort aus führte Ralf Mahytka die Gruppen über den für die Landesgartenschau sichtbar gemachten Teil des Hellwegs. Auf dem angrenzenden Acker fand der Archäologe prompt eine Scherbe aus mittelalterlicher Zeit.
Auf dem Rückweg zum Welterbe hielten die Gruppen dann im Remtergarten inne, der das Schmuckkästchen der Landesgartenschau sein wird und hinter der Klostermauer im Schatten des Westwerks und der Abteikirche deutlich Kontur annimmt. Ralf Mahytka hat auch diese Bauarbeiten archäologisch begleitet und Teile der klösterlichen Friedhofsmauer freigelegt. Auch Steinplattengräber wurden gefunden. „Wir haben sie dokumentiert und eingemessen“, berichtete er. Aus einem Grab, dessen Steinabdeckung fehlte, haben die Wissenschaftler einen Schädel freigelegt und einen Zahn entnommen, um Aufschluss über das Alter der dort Bestatteten zu gewinnen. Der Friedhof bleibt ebenso wie die weiteren erhaltenen Überreste der zum Welterbe gehörenden Civitas (dem mittelalterlichen Klosterbezirk) als Bodendenkmal ersten Ranges unangetastet im Boden.
Höchst anregend haben die Gäste im und um das Weserkloster nachvollziehen können, wie in Corvey alles getan wird, um das Erbe zu erhalten und die Zukunft zu gestalten. In welch malerischer Region die Welterbestätte beheimatet ist, erfuhren sie ebenfalls. Michael Stolte, Geschäftsführer der Gesellschaft für Wirtschaftsförderung (GfW) im Kreis Höxter, fächerte das Kulturland Kreis Höxter mit all seinen Anziehungspunkten und der großen Dichte an Klöstern auf. Informationsmaterial auch zum Netzwerk Klosterlandschaft OWL regte zum Wiederkommen an.