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Einblicke in das Pompeji von Westfalen

Als Bodendenkmal ist es erhalten. Jetzt öffnen sich Fenster in das geheimnisvolle Pompeji von Westfalen: Die von Corveyer Äbten gegründete und 1190 erstmals urkundlich erwähnte mittelalterliche Stadt Corvey ist ein Anziehungspunkt der Landesgartenschau 2023. Bei diesem Großevent und auch schon beim UNESCO-Welterbetag am Sonntag, 5. Juni 2022, lässt sich die 1265 wüst gefallene Stadt südlich der ehemaligen Benediktinerabtei und heutigen Welterbestätte Corvey in die Karten schauen.

Archäologe Ralf Mahytka erläutert den Grundriss der Marktkirche. Zusammen mit der Historikerin Annika Pröbe vom Corvey-Kompetenzteam führt er am UNESCO-Welterbetag durch die versunkene Stadt. Fotos: Kirchengemeinde Corvey

Die Planungen für den Archäologiepark nehmen Konturen an. Das Areal verändert sich in diesen Wochen und Monaten zusehends. Über Holzstege, die die „Kernstadt“ der versunkenen Stadt rahmen, können die Gäste demnächst auf Zeitreise gehen. Was sie sehen, reicht vom Mittelalter bis fast in die Gegenwart. Denn auch das Sägewerk, das zur Geschichte dieses Ortes dazu gehört, wird mit einzelnen Hinterlassenschaften und nicht zuletzt auch mit dem Siloturm von seiner Existenz erzählen.

Vom Fortgang der Arbeiten können sich Interessierte bei Baustellenführungen der Landesgartenschau-Gesellschaft ein Bild machen. Oder am UNESCO-Welterbetag am Sonntag, 5. Juni: Die Historikerin Annika Pröbe vom wissenschaftlichen Kompetenzteam der Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus Corvey und der LGS-Archäologe Ralf Mahytka bieten um 11 Uhr und um 14.30 Uhr gemeinsam Führungen sowohl im karolingischen Westwerk als auch auf dem Gelände der versunkenen mittelalterlichen Stadt an.

Dieser Teil des Hellwegs ist schon jetzt für die Landesgartenschau sichtbar gemacht worden,

Diese Rundgänge starten an einem Teil des Hellweges, der für die Landesgartenschau auf einem Acker sichtbar gemacht wurde. Der Hellweg war im Mittelalter eine wichtige Handelsstraße von Ost nach West und auch Hauptstraße der Stadt Corvey. Am Ende der gepflasterten, mindestens fünf Meter breiten Trasse mit angrenzenden Fußwegen und Wohnhäusern führte eine Brücke über die Weser. Sie wurde 1255 erstmals urkundlich erwähnt und war, wie Ralf Mahytka bei den Führungen am Welterbetag erläutern wird, den Höxteraner Bürgern ein Dorn im Auge. Denn Höxter hatte, nicht viel mehr als einen Kilometer entfernt, ebenfalls eine Brücke. „Diese Konkurrenz war sicher ein Grund für die Zerstörung Corveys“, sagt der Archäologe. „Denn die Höxteraner Bürger haben sich am Überfall des Paderborner Bischofs Simon I. beteiligt und maßgeblich dazu beigetragen, dass die Stadt Corvey gefallen ist.“ Angeführt von Truppen des Bischofs, wurde sie damals dem Erdboden gleich gemacht. Die Stadt hatte nur drei oder vier Generationen existiert.

In dieser kurzen Zeit sind mehrere Kirchen entstanden. Eine von ihnen – die Marktkirche – ist in ihren Umrissen wieder zu sehen: Mit Wesersandsteinplatten ist der Grundriss des Gotteshauses originalgetreu nachempfunden worden. „Wir wissen, wie die Kirche ausgesehen hat.“ Grundlage waren die Grabungen des Entdeckers der Stadt Corvey, Professor Dr. Hans-Georg Stephan, und spätere Bodenradar-Untersuchungen mit Experten des LWL.

Letztere lieferten den Beweis dafür, dass die Marktkirche nicht wie das Westwerk der Benediktinerabtei Corvey und die Kilianikirche in Höxter eine Zweiturmfassade, sondern nur einen Turm hatte. Der muss aber durchaus stattlich gewesen sein, schlussfolgert Ralf Mahytka aus den starken Fundamentierungen. „Sie würden einen hohen Aufbau erlauben.“

Blick auf das Westwerk vom Archäologiepark aus.

Die Marktkirche war eine dreischiffige Pfeilerbasilika mit Apsiden. „Sie ist wahrscheinlich um 1200 – also extra für die Stadt Corvey – gebaut worden und stand bis 1517“, erläutert Mahytka. Sie war zentraler Ort für die Bürger der Stadt Corvey. Der nachempfundene Grundriss vermittelt einen Eindruck von Größe und Bedeutung.

In unmittelbarer Nachbarschaft zur Kirche erinnert ein idealisierter Grundriss an das Haus des berühmten Chirurgen von der Weser. Der vor 1220 geborene Mediziner, dessen Name unbekannt ist, hat an dieser Stelle Augenoperationen durchgeführt. Das von Professor Stephan bei seinen Grabungen gefundene OP-Besteck liefert den Beweis und ist so bedeutend, dass es von einer Ausstellung zur anderen wandert. An Audio-Stationen in Holz-Würfeln erfahren Landesgartenschau-Besucher mehr über den Arzt, von dem man weiß, dass er Kanoniker des auch zur Stadt Corvey gehörenden Stifts Niggenkerken am Grauen Star operiert hat.

Während diese Grundrisse der Marktkirche und des „Hauses des Chirurgen“ dauerhaft aus von der versunkenen Stadt künden werden – geplant ist auch der Neubau eines Besucherzentrums –, zeigt sich der Hellweg nur für die Zeit der Landesgartenschau. Danach führt er sein verdecktes Dasein weiter, so wie es die Fundamente so vieler Gebäude ebenfalls tun.

Zur Geschichte und Bedeutung der Stadt haben Stadtarchivar Michael Koch und Stadtarchäologe einen Blogbeitrag geschrieben, den wir zur Lektüre empfehlen.

Dieses Modell der mittelalterlichen Stadt Corvey hat Anna-Lena Sporleder in einem Projektkurs Geschichte mit Dr. Carola Fern gestaltet. Es ist im Schloss Corvey zu sehen.