Auf dem Mauerwerk der Arkadenzwickel im Hauptraum des Johanneschores entdeckt die renommierte Corvey-Forscherin Professor Dr. Hilde Claussen 1992 Sinopien für sechs annähernd lebensgroße Figuren. Als sie diesen oxidroten Pinselvorzeichnungen aus karolingischer Zeit Stuckreste zuordnet, die 30 Jahre zuvor bei der Fußbodenerneuerung in dem erhabenen Sakralraum zutage getreten waren, ist die Sensation perfekt.
Die Dimension dieser großen Entdeckungen und Erkenntnisse war gegenwärtig, als jene Stuckfragmente – 35 an der Zahl – jetzt kurzzeitig das Depot im Zentralen Fundarchiv der LWL-Archäologie für Westfalen verlassen hatten, um für eine dreidimensionale Dokumentation unter der Regie des Fraunhofer-Instituts für Graphische Datenverarbeitung IGD Darmstadt Modell zu stehen.
Die Bandbreite der Stuckreste umfasst unter anderem ein annähernd körperbreites Gewandfragment mit sehr gut erkennbaren Falten, ein Schienbeinfragment mit Schuhansatz, einen von einer Tunika verhüllten Oberschenkel und Teile eines Kopfes. Die Höhe und Breite der fast 1200 Jahre alten Schätze variiert zwischen etwa 35 und weniger Zentimetern. Die sechs Figuren, zu denen sie gehörten, sind schon im 12. Jahrhundert abgeschlagen worden. Kaum zu glauben, dass sich „Puzzleteile“ dieser Statuen über Jahrhunderte hinweg erhalten haben.
Figuren kehren virtuell zurück
Im Rahmen der multimedialen Erschließung des karolingischen Westwerks sollen die vier Männer und zwei Frauen nun in ihrer ursprünglichen Imposanz virtuell an jenen Platz zurückkehren, den die Vorzeichnungen einstmals für sie bereitgehalten haben. Für diese Rekonstruktion der prächtigen Figuren, aber auch zu archivalischen Zwecken sind die 35 Stuckfragmente nun mittels automatisierter Photogrammetrie dreidimensional gescannt worden.
Martin Schurig vom Fraunhofer Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD hat dieses Projekt betreut. „Die 3D-Digitalisierung hat sich in den letzten Jahren immer mehr als ein vielversprechender Ansatz für die präzise Rekonstruktion von Objekten etabliert“, konstatiert der Experte. „Doch anders als bei der digitalen Erfassung von Kulturgütern in 2D, die heute weit verbreitet und automatisiert ist, erfordert die 3D-Digitalisierung häufig oft noch erhebliche manuelle Eingriffe, Zeit und Geld.“
Innovatives Verfahren
Um Kulturerbe-Institutionen in die Lage zu versetzen, wirtschaftliche und automatisierte 3D-Digitalisierungstechnologien zu nutzen, habe die Abteilung „Digitalisierung von Kulturerbe“ am Fraunhofer-Institut für Graphische Datenverarbeitung IGD den „CultArm3D“ entwickelt – „die weltweit erste vollautomatische 3D-Massendigitalisierungstechnologie für Sammlungen von dreidimensionalen Objekten“. Martin Schurig: „3D-Scanroboter wie der ‚CultArm3D‘ sind speziell für die Automatisierung des gesamten 3D-Digitalisierungsprozesses ausgelegt. Der ‚CultArm3D‘ kombiniert intelligente Ansichtsplanung mit farbgetreuer Erfassung beliebiger Objekte mit anspruchsvollen Oberflächenmaterialien. Hochauflösende und webfähige Ergebnisse werden in standardisierten 3D-Dateiformaten zur Verfügung gestellt.“
Dieses innovative Verfahren machen sich die Verantwortlichen der Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus Corvey nun zunutze, um die Alleinstellungsmerkmale des Welterbes nicht nur zeitgemäß in Szene zu setzen, sondern auch aussagekräftig für die Nachwelt zu dokumentieren. Annika Pröbe, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Kompetenzteam des karolingischen Westwerks, ist von den Scans der Stuckfragmente beeindruckt: „Sie sind so fein und präzise, dass man kleinste Farbreste erkennen kann und auch kleine Bearbeitungsspuren sieht.“
Schätze nur mit Handschuhen angefasst
Neben dem Fraunhofer-Institut war die LWL-Archäologie für Westfalen ein wichtiger Kooperationspartner bei diesem Projekt. Denn es galt, das Scannen der Stuckfragmente restauratorisch zu begleiten. „Der kulturelle Wert der Fragmente, ihre teilweise fragile Beschaffenheit und insbesondere die farbigen Malschichten bedingten, dass das Objekthandling ausschließlich von einer restauratorischen Fachkraft ausgeführt wurde“, erläutert Florian Westphal. Er ist Restaurator bei der LWL-Archäologie für Westfalen und hat diese spannende Aufgabe übernommen. „Es wurde eine Verfahrensweise geschaffen, die vom Auspacken, der Vor-Positionierung und der Positionierung auf dem Drehteller bis hin zum Einpacken alle notwendigen Schritte abdeckte“, berichtet er. „Auf Grund der Materialbeschaffenheit und der möglichen Reaktion der Oberflächen mit Fetten und Säuren der menschlichen Haut wurden stets inerte Handschuhe getragen.“
„Gepolstert“ auf den Drehteller
Auf dem Drehteller, von dem aus sie aufgenommen wurden, sind die sensiblen Objekte möglichst in Originallage positioniert worden. „Hierfür wurden unterschiedliche Halterungen benutzt, wie gefüllte Säcke, die sich der Objektgeometrie anpassten und für stabile Positionierung sorgten“, berichtet der Restaurator. „Als Zwischenlage kam schwarzer Baumwollstoff zum Einsatz, auch um einen hohen Kontrast zu den hellen Stuckfragmenten für die Photogrammetrie zu bekommen und als Schutzschicht zwischen Objekt und Ständerung zu fungieren.“
Inzwischen sind die so wertvollen Schätze wohlbehalten ins Depot zurückgekehrt. Annika Pröbe zieht eine durchweg positive Bilanz und dankt den Projektpartnern. „Alles hat wunderbar geklappt.“
Das Ergebnis des Scan-Prozesses sehen Sie in einem Video auf unserem Youtube-Kanal.
Die Fotos in der Galerie hat uns Florian Westphal zur Verfügung gestellt.