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Von Atrien und „roten Männern“

By 17. Dezember 2019April 29th, 2020No Comments

Die internationale Tagung „Neue Technologien zur Vermittlung von Welterbe“ hat einen der bedeutendsten Corvey-Experten, Professor Dr. Uwe Lobbedey, an den Ort seiner jahrzehntelangen Forschungen  geführt. Der Kunsthistoriker, Archäologe und Denkmalpfleger aus Münster gehörte zu den fast 140 Teilnehmern des hochkarätigen  Symposiums, mit dem das Erzbistum Paderborn, die Deutsche UNESCO-Kommission und ICOMOS Deutschland das Welterbe bei Höxter und die ambitionierten Pläne zur didaktischen Erschließung dieses Leuchtturms in einen internationalen Kontext gestellt haben.

Der Corvey-Forscher Professor Dr. Uwe Lobbedey (links) und der Leiter des wissenschaftlichen Kompetenzteams zur Erschließung des Westwerks, Professor Dr. Christoph Stiegemann, bei der Tagung im Welterbe. Fotos: Kalle Noltenhans

Seite an Seite mit der unvergessenen Hilde Claussen (1919–2009) hat Uwe Lobbedey das monastische Corvey und seine baulichen Besonderheiten erforscht und umfassend dokumentiert. Beide Wissenschaftler haben die Alleinstellungsmerkmale entdeckt, deren Weltgeltung heute den Welterbestatus der 822 gegründeten Benediktinerabtei rechtfertigen.

„Wir haben damals schon darauf gedrängt, dass für dieses Bauwerk etwas getan wird. Gut, dass es jetzt auf einer soliden Basis in Gang kommt“, kommentierte Uwe Lobbedey (82) während der Tagung vor Ort im Welterbe die Planungen, deren Umsetzung mit der denkmalrechtlichen Genehmigung der Glastrennwand zwischen Westwerk und barockem Kirchenschiff in Kürze beginnen kann. Er habe sich davon überzeugen lassen, dass die Glaswand der karolingischen Architektur an der Stelle nicht schade, konstatierte der renommierte Wissenschaftler beim Blick in die Erdgeschosshalle mit ihren vier Säulen, deren korinthischen Kapitelle er als eine der großartigsten Schöpfungen der karolingischen Renaissance einordnet.

Alte Lichtführung simulieren

Die Säulen, die weiteren Pfeiler und auch das Deckengewölbe unterstreichen einen Raumeindruck, der seit Jahrhunderten nicht mehr wie ursprünglich zur Geltung kommt. Denn mit dem Bau der angrenzenden Barockgebäude sind die seitlichen Fenster zugemauert worden. Die alte Lichtführung fällt somit weg. Diese zu simulieren – wie es auch geplant ist – gehört aus Sicht von Professor Lobbedey zu den wichtigen Elementen der Erschließung des Westwerks.

Die Erdgeschosshalle des Westwerks mit ihren Säulen und Pfeilern hat die Teilnehmer der internationalen Tagung beeindruckt.

Welche Rolle das natürliche Licht in der Baukunst spielte – darauf richteten bei der Tagung die Vertreter einer Welterbestätte in der Ewigen Stadt Rom den Fokus der Teilnehmer. In der Domus  Aurea („Goldenes Haus“), einem von Kaiser Nero (54 – 68) errichteten Palast, akzentuierte der natürliche Lichteinfall bestechend die Raumwirkung und den Glanz wandbekleidender Elemente wie  Marmor und goldbestückte Dekorationen.

Unter den Ruinen der Trajansthermen sind von der prachtvollen Anlage nur noch fensterlose Kellerräume übrig. Dr. Alessandro D’ Alessio und Stefano Borghini (Archäologischer Park / Colosseum / Domus Aurea) vermittelten bei der Tagung anregende Eindrücke davon, wie den Menschen von heute dank neuer Technologien die frühere Ausgestaltung des Luxuspalastes und die Kunstfertigkeiten im Einsatz des natürlichem Lichts erlebbar gemacht werden.

Reste zweier Atrien 1995 entdeckt

Wie in Corvey die alte Lichtführung in einzelnen simuliert werden kann, müsse genau überlegt werden, betonte Professor Lobbedey im Westwerk. Jahrzehntelang hat er Architektur und Bausubstanz des heutigen Welterbes erforscht. Erste planmäßige Ausgrabungen fanden in den 1970er-Jahren unter seiner Leitung im gesamten Kircheninneren statt. In den 1990-er Jahren forschte der damalige Hauptkonservator beim Westfälischen Museum für Archäologie in Münster unter anderem im Friedgarten und im ehemaligen Kreuzgang. 1995 schließlich entdeckte Lobbedey bei Grabungen im Zuge der Erneuerung des Vorhofs des Westwerks Reste zweier Atrien nach römischem Vorbild.

Corvey sei Teil seines Lebens, blickt der renommierte Archäologe und Kunsthistoriker zurück. Wenn es darum gehe, aus seiner Arbeit  etwas Herausragendes hervorzuheben, dann möchte er sich nicht auf ein Detail festlegen. Die Gesamtheit sei das Besondere. „Das fängt schon unter dem Dach an. Ich habe die Balkenlöcher der karolingischen Balkendecke gefunden. Das war aufregend, weil in der Forschung lange überlegt wurde, wo diese Löcher sind. Ich war offensichtlich der erste Mensch, der mit einer Lampe dort hochgegangen ist. Strom gab es da oben nicht. Ich habe mehrere Kabeltrommeln genutzt und fand die Löcher.“

Sinopien als Schlussakkord

An der Wand des Westwerks lasse sich die Deckenhöhe des Mittelschiffs der untergegangenen karolingischen Basilika ablesen, brachte Professor Lobbedey einen weiteren entscheidenden  Erkenntnisgewinn auf den Punkt. „Wir haben eine dreidimensional begründete Vorstellung, wie die Basilika ausgesehen hat.“

Dr. Matthias Exner, Deutsches Nationalkomitee von ICOMOS, München, bei einer Führung im Johanneschor.

Der Schlussakkord seien schließlich „unsere roten Männer“ gewesen, erinnerte sich Uwe Lobbedey lebhaft an die spektakuläre Entdeckung der Sinopien im Johanneschor. Professor Dr. Hilde Claussen hat diese Vorzeichnungen für sechs annähernd lebensgroße Figuren 1992 im Rahmen ihrer Untersuchungen zur Ausmalung des Johanneschores gefunden.

Die Wissenschaftlerin ordnete diesen Vorzeichnungen die Stuckreste zu, die 1960 bei der Fußbodenerneuerung im Johanneschor zutage getreten waren. „Hilde Claussen hatte sie in Sicherheit gebracht, damit sie nicht im Bauschutt untergehen. Es waren begrenzte Fragmente, die man stilistisch nicht einordnen konnte. Die Forschung dachte, sie seien romanisch“, berichtete Uwe Lobbedey. Geradezu gegenwärtig wird ihm in diesem Augenblick die Entdeckung der „roten Linien“ auf dem Mauerwerk der Arkadenzwickel.

Die Zuordnung der Stuckfragmente zu diesen Sinopien war aufsehenerregend: „Diese Sensation hat uns viel Arbeit gemacht“, sagte Uwe Lobbedey. „Es hat lange gedauert, bis wir einen Weg gefunden haben, die Figuren adäquat zu dokumentieren.“ Sie seien „Inkunabeln der abendländischen Skulptur“. Dr. Matthias Exner, Deutsches Nationalkomitee von ICOMOS, erläuterte bei der internationalen Tagung in Corvey die Bedeutung der Entdeckungen im Johanneschor als Beleg für die herausragende Rolle der Stuckplastik in karolingischen Dekorationssystemen.

Plastischer Eindruck möglich

Dr. Birgitta Ringbeck vom Auswärtigen Amt Berlin (Koordinierungsstelle Welterbe) und Professor Stiegemann (rechts) haben Uwe Lobbedey und Hilde Claussen während ihrer Studienzeit erlebt.

Wenn die ursprüngliche Ausgestaltung des Johanneschores in Wechselwirkung mit der Aura des Ortes mittels Augmented Reality wieder erblüht, erhalten die Besucher einen plastischen Eindruck von diesen beeindruckenden Figuren. Bei den Planungen schließt sich ein Kreis: Professor Dr. Christoph Stiegemann, Direktor des Diözesanmuseums Paderborn und Leiter des wissenschaftlichen Kompetenzteams zur Erschließung des Westwerks, hat  Uwe Lobbedey und Hilde Claussen in seiner Studienzeit erlebt.

Das gilt auch für Dr. Birgitta Ringbeck vom Auswärtigen Amt Berlin (Koordinierungsstelle Welterbe). Sie ist Motor der erfolgreichen Welterbe-Bewerbung Corveys gewesen und hat, während sie den Antrag schrieb, immer wieder an die beiden Forscher gedacht. Die digitale Transformation ihrer umfassenden, auf höchstem Niveau  dokumentierten Erkenntnisse trage jetzt dazu bei, Corveys Weltgeltung den Menschen zugänglich zu machen.

Beitragsfoto/Titelbild: Das barocke Kirchenschiff war eine der Stationen der Gruppenführungen für die Teilnehmer der Tagung. Foto: Kalle Noltenhans