Nachhaltige Eindrücke haben zahlreiche Besucher jetzt im Welterbe Westwerk Corvey gewonnen: Das wissenschaftliche Kompetenzteam zur Erschließung dieses Juwels im Weserbogen bei Höxter hat zum zweiten Mal beim Tag des offenen Denkmals Führungen angeboten. Die Aura des Ortes blühte geradezu auf, als die Gäste die von Engeln bewachte Himmelsstadt mit fachkundiger Begleitung erkundeten.
Geschichte wird von Menschen gemacht. Entsprechend lebendig wird sie, wenn Menschen sie nicht nur aufschreiben, sondern auch erzählen. Ein Forum dazu bietet der „Tag des offenen Denkmals“, der vielleicht genau aus diesem Grund so erfolgreich ist. Bau-, Kunst- und Kulturgeschichte werden im Gespräch und im direkten Austausch mit Interessierten in ihrer Bedeutung und Nachhaltigkeit gegenwärtig. Diese fesselnden Eindrücke haben viele Besucher im Welterbe Westwerk Corvey gewinnen können. Das wissenschaftliche Kompetenzteam zur Erschließung dieses Juwels im Weserbogen bei Höxter hat zum zweiten Mal beim „Tag des offenen Denkmals“ am 8. September Führungen angeboten.
Hochnebel lag an diesem Sonntagmorgen über dem Wesertal. Den Blick auf das Westwerk verschleierte er aber nicht. Das war auch gut so. Schließlich stand dieses bedeutende Bauwerk mit seinem weltweiten Alleinstellungsmerkmal im Mittelpunkt des Tages. Wissenschaftler verschiedener Disziplinen wie die restauratorische Fachbauleiterin Karen Keller und die Restauratorin Katharina Heiling sind mit profunder Fachkenntnis und großer Leidenschaft dabei, den fragilen Originalbestand etwa der Wandmalereien in der Erdgeschosshalle und im Johanneschor Millimeter für Millimeterzu kartieren.
Ihn konservatorisch zu sichern und geschichtliche Quellen zu analysieren, steht ebenso auf ihrer Agenda wie die anschließende multimediale Erschließung für die Besucherinnen und Besucher, in die sämtliche Erkenntnisse aus den akribischen Vorarbeiten einfließen.
Annika Pröbe und Dr. Anne Veltrup vom wissenschaftlichen Kompetenzteam stellten die Planungen für dieses hochambitionierte Projekt beim Denkmaltag vor und ließen mithin die Himmelsstadt, als die dieser wirkmächtige Sakralbau errichtet worden war, in all ihrer Farbenpracht geradezu aufblühen. Zuvor jedoch hielten sie mit ihren Gruppen zunächst draußen – vor dem Westwerk und der im Boden eingelassenen Plakette zur Erinnerung an die Welterbe-Anerkennung 2014 – inne.
Beim Anblick der imposanten Fassade nahmen sie die Zuhörer mit zu einer Gedankenreise ins französische Corbie, von wo aus Benediktinermönche 815 auf Geheiß Ludwigs des Frommen auszogen, um im Lande der zuvor von seinem Vater Karl dem Großen in einem mehr als 30 Jahre währenden Krieg bezwungenen Sachsen zur Missionierung ein Kloster zu gründen.
Die Ordensmänner ließen sich zunächst in Hethis im Solling nieder, verließen diese unwirtliche und vergleichsweise menschenleere Gegend aber nach wenigen Jahren wieder, um in der „Villa Huxori“ einen neuen Versuch zu unternehmen. Dieser führte zum Erfolg. Nova Corbeia, später Corvey, avancierte nach seiner Gründung 822 zu einem hochrangigen geistig-geistlichen Zentrum des christlichen Abendlandes. Quellen wie die TranslatioSanctiViti von 836 (im Mittelpunkt steht die Übertragung der Gebeine des heiligen Vitus aus St. Denis in das neue gegründete Kloster an der Weser) oder die Corveyer Annalen erzählen aus der frühen Geschichte dieses Leuchtturms der Christenheit.
Die Besucher der Führungen erfuhren beim Anblick des 885 geweihten Westwerks von diesen bedeutenden Überlieferungen, aus denen sich wichtige Erkenntnisse über die frühe monastische Geschichte des heutigen Welterbes ableiten lassen. Annika Pröbe und Anne Veltrup stellten den Zuhörern aber auch Forscher vor, die die Baugeschichte dieses großen karolingischen Architekturdenkmals entschlüsselt haben: Hilde Claussen und Uwe Lobbedey. „Ihnen haben wir viel Wissen zu verdanken“, erläuterte Anne Veltrup bei ihren Führungen. Uwe Lobbedey hat 1995 bei archäologischen Grabungen im Zuge der Erneuerung des Vorhofs des Westwerks Reste zweier Atrien gefunden. Sie grenzten rechts und links unmittelbar an die Frontfassade an. „Es ist von unschätzbarem Wert, zu wissen, dass es die Atrien gegeben hat.“
Pflastersteine im Boden deuten ihre Grundrisse heute ebenso an wie die der beiden Brunnen. Mit dem Wissen um diese Atrien und um bauliche Veränderungen an der Fassade, die bis zum 12. Jahrhundert drei Türme hatte, richteten die Besucher dann den Fokus auf Spuren der ursprünglichen Farbigkeit. Das Westwerk war verputzt, weißgetüncht und farbig akzentuiert. „Man kam auf ein grünes Portal zu“, erläuterte Anne Veltrup und deutete auf Farbreste, die davon erzählen.
Dann traten die Gruppen ein – in die Halle mit ihren Pfeilern, deren korinthische Kapitelle Uwe Lobbedey als eine der hervorragendsten Schöpfungen der karolingischen Renaissance eingestuft hat. Reste der Wandmalereien („Es ist wunderbar, dass wir sie haben“, betonte Anne Veltrup) lassen erahnen, wie anders die Eingangshalle und auch der hochbedeutende Johanneschor einst in der Blütezeit der Abtei in ihrer Farbigkeit ausgesehen haben. Mit Rekonstruktionen vermittelten die beiden Wissenschaftlerinnen den Denkmaltag-Besuchern Eindrücke der einstigen kunstvollen Farbgestaltung – und weckten die Vorfreude darauf, dass die Gäste demnächst mit Hilfe neuer Technologien die von Engeln bewachte Himmelsstadt in ihrer Prachtentfaltung erkunden können.
Natürlich klang diese vielversprechende Zukunftsmusik beim Denkmaltag an. Aber auch der Status Quo hatte einmalige Eindrücke für die Gäste zu bieten. Einen eingerüsteten Johanneschor sieht man nicht alle Tage. Wegen der konservatorischen Arbeiten prägen Gerüste den Raumeindruck. Die berühmte Odysseus-Szene ist aber nicht verdeckt. Sie zu sehen, war für einheimische wie auswärtige Denkmaltag-Besucher ein erhebendes Erlebnis.
Höxter und Umgebung war übrigens gut vertreten bei den Besuchern. „Selbst wenn man Corveykennt, macht es immer wieder Freude, auf den Spuren der klösterlichen Geschichte zu wandeln“, sagte einer der Gäste. „Außerdem kennt man längst nicht jedes Detail.“ Daher lohnt sich immer wieder der (kurze) Weg zum „Tag des offenen Denkmals“.