Wenn die Abendsonne in den Johanneschor des karolingischen Westwerks hineinscheint, dann entfaltet sich seine spirituelle Aura. Die Lichtstimmung macht augenfällig, als was die Mönche diesen zweigeschossigen Sakralraum vor etwa 1100 Jahren ersonnen haben: als irdisches Abbild des himmlischen Jerusalem. Am Abend des Gedenktages Johanni Enthauptung Ende August unterstrich die Wärme des Kerzenscheins diese besondere Ausstrahlung: Vertreter der Gremien des Pastoralen Raumes versammelten sich zur Eucharistie.
Die Messfeier mit den Pfarrgemeinderäten und Kirchenvorständen im Gedenken an den Namensgeber der Emporenkirche, Johannes der Täufer, hat im Glaubensleben der Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus Tradition – und ist Teil eines Kontinuums, das seit 1200 Jahren währt und die Menschen mit der Botschaft des Evangeliums in Berührung bringt. Seit Gründung der Benediktinerabtei 822 ist die heutige Welterbestätte im Weserbogen ein beständiger Ort der Gottsuche, des Gebets und der Begegnung in Christus.
Stärkende Kraft des Gebets
In diesem Geist entfaltete sich auch während der Messfeier zu Johanni Enthauptung die stärkende Kraft des Gebets. Die lichte Architektur dieses besonderen Raumes vermittelte das Gefühl, dass das gesprochene und gesungene Wort emporsteigt zu Gott – um dann als Hoffnungsschimmer und als Kraftquelle wieder auf die Menschen herabzustrahlen.
Die impulsgebende Ansprache von Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek unterstrich dieses Empfinden. Der Geistliche erinnerte an die Rolle Johannes des Täufers. Dieser stehe im Neuen Testament im Licht des letzten Propheten vor dem Erscheinen des Messias. Im Lukasevangelium werde von Soldaten berichten, die ihm die Frage stellen, was sie tun sollen. Johannes antwortet: „Tut niemandem Gewalt an, erpresst niemanden und begnügt euch mit eurem Sold.“ Bedeutet: „Seid fair und respektvoll. Seid nicht gierig und nicht korrupt.“
Diese Antwort könne theologisch zu einem Handlungsmaßstab werden für die sogenannten Soldatenheiligen wie den hl. Mauritius, Anführer der Thebäischen Legion, der am Ende des 3. Jahrhunderts als Märtyrer gestorben ist und dessen Verehrung im 8. Jahrhundert auch bei den Franken einsetzte, erläuterte der Pfarrdechant. Und schlug einen Bogen zur ursprünglichen Ausgestaltung des Johanneschores und deren Deutung. Dr. Krismanek richtete dabei das Augenmerk auf die Sinopien (Vorzeichnungen für lebensgroße Stuckfiguren), die das Quadrum umgeben, in dem die Zuhörenden an diesem Abend saßen.
Soldatenheilige als mögliche Deutung
Wen die Stuckplastiken in den Arkadenzwickeln einst darstellten, sei Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. Eine der möglichen Deutungen sei die, dass zwei der insgesamt sechs Figuren Soldatenheilige darstellten. Diese seien für die Herrscher wichtige Vorbilder gewesen. „Ihren Idealen wollten sie folgen.“ Die Ideale gelten, so der Pfarrdechant, nicht nur für Herrscher, sondern für alle Christen. Sie alle seien durch ihre Taufe auch zum Prophetenamt im Sinne des Johannes berufen.
„Der Johanneschor will uns das mit den Mitteln des 9. Jahrhunderts vor Augen führen.“ Wie – das erschließt sich den Gästen seit der Saison 2023 mit den modernen Mitteln der Augmented Reality (erweiterte Realität). Kirchenvorstand Josef Kowalski stattete die Gottesdienstbesucher im Anschluss an die hl. Messe mit Tablets aus. Auf deren Bildschirm entfaltet sich die karolingische Ausgestaltung der Emporenkirche. Und so sahen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Stuckfiguren, von denen der Pfarrdechant zuvor so eindrücklich gesprochen hatte, virtuell aus der Wand wachsen.
Botschaft der Mönche erschließt sich
Möglich macht diese fesselnde Erlebnis-Zeitreise eine von Spezialisten des Fraunhofer-Instituts für graphische Datenverarbeitung Darmstadt auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse entwickelte App. Die sensible karolingische Bausubstanz bleibt dank der modernen Technologien unangetastet. Durch die virtuelle Renaissance erschließt sie sich aber umso eindrücklicher: in ihrer Imposanz und nicht zuletzt auch in der Botschaft, die die Mönche vor 1100 Jahren in diesem besonderen Sakralraum mit den Mitteln der Architektur, der Wandmalerei und der Stuckplastik vermitteln wollten.
Text: Sabine Robrecht