Herrscherloge ja oder nein? Diese Deutungsidee für die Westempore des Johanneschors im Obergeschoss des karolingischen Westwerks hat Befürworter, aber auch Gegner. In die elfte und letzte „Zeitreise“-Etappe zum Corvey-Jubiläum hatte der Referent des Abends, Dr. Holger Kempkens, einen ganz anderen Ansatz für die Funktion dieses exponierten Platzes mitgebracht: Die große Mittelöffnung könnte für eine Nutzung als Ostergrab gedacht gewesen sein, zitierte er den Kieler Kunsthistoriker Professor Dr. Klaus Gereon Beuckers.
Diese Deutung schiebt die Idee der Herrscherkirche beiseite und war vielen Zuhörerinnen und Zuhörern des finalen Abends der elfteiligen Vortragsreihe neu. Und auch die europäischen Vergleichsbauten, die Holger Kempkens für die untergegangene karolingische Basilika und das zum Glück erhaltene Westwerk in Wort und Bild vorstellte, entfalteten in ihrer Zusammenschau einen Erkenntnisgewinn. Denn sie stellten die Welterbestätte an der Weser in einen Kontext, der die Vorstellungskraft für ihre architektonische und baukünstlerische Handschrift und Intention durch einen Blick von außen abrundete.
Es war also wieder ein bereichernder Abend, den die Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus den Gästen in Zusammenarbeit mit dem Netzwerk Klosterlandschaft OWL bescherte und der zum Schluss der Reihe wieder an den Anfang, die Gründungszeit des Benediktinerklosters vor 1200 Jahren, führte. Der Kunsthistoriker Dr. Holger Kempkens, seit 2020 Direktor des Diözesanmuseums Paderborn und als Leiter der Fachstelle Kunst im Erzbischöflichen Generalvikariat auch für Corvey tätig, richtete den Scheinwerfer auf die Baugeschichte und Architektur der karolingischen Klosterkirche.
Dreischiffige Basilika mit rechteckigem Chor
Auf Vorgänger-Etappen der „Zeitreise“ wie etwa die Vorträge der Paderborner Stadtarchäologin Dr. Sveva Gai, der Standortleiterin für das Westwerk und die Abteikirche Corveys, Annika Pröbe, und des Theologen Professor Dr. Thomas Söding Bezug nehmend, geriet der Abschluss der Reihe für die vielen Stammgäste unter den Zuhörenden auch zu einer gedanklichen Rückschau auf ein besonderes halbes Jahr. Dieses hatte ihnen dank des Themenspektrums der elf hochkarätigen Vorträge das unvergängliche Weltdenkmal an der Weser in seinen Geheimnissen, die es nach wie vor birgt, und auch in der Unerschöpflichkeit dessen, was es zu reflektieren einlädt, lehrreich erschlossen.
In die Zukunft nahm Dr. Kempkens die Gäste beim Blick auf die Baugestalt der 844 geweihten ersten Kirche des 22 Jahre zuvor gegründeten Klosters ebenfalls mit. An die dreischiffige Basilika mit rechteckigem Chor schloss sich im Osten eine zweigeschossige Scheitelkapelle an. Von der Flachdecke aus Flechtwerk im unteren Raum dieser Kapelle sind 1974/1975 bei Grabungen Fragmente eines Wellenrankenfrieses zum Vorschein gekommen. „Sie sind ein Prunkstück der neukonzipierten Dauerausstellung“, verwies Dr. Kempkens auf ein Glanzlicht, das zur Saison 2024 in Corvey an den Start geht: Unter der Ägide seines Vorgängers an der Spitze des Diözesanmuseums Paderborn, Professor Dr. Christoph Stiegemann, erlebt die inzwischen in die Jahre gekommene Dauerausstellung in den Räumen des Schlosses mit kostbaren Leihgaben der Kirchengemeinde einen fulminanten Relaunch.
Gleich zu Beginn des Rundgangs – im ehemaligen Kapitelsaal im Erdgeschoss des Ostflügels – ziehen die Fragmente des Wellenrankenfrieses aus der ersten Scheitelkapelle die Aufmerksamkeit auf sich. Das kostbare Original zeigt sich nach wie vor senkrecht und geschützt in einer Vitrine. Neu ist die Lichtdecke, mit der die Ausstellungsmacher die ursprüngliche Raumsituation der Rankenmalerei nachempfinden.
Schriftliche Quellen geben Auskunft
Vom ursprünglichen Kontext der Fragmente, dem Gründungsbau der Klosterkirche, vermittelte Dr. Kempkens in seinem Vortrag Vorstellungen. Dass schriftliche Quellen über die Baugestalt der untergegangenen karolingischen Basilika aufschlussreich Auskunft geben, sei nicht bei allen mittelalterlichen Kirchen der Fall, erläuterte der Museumsdirektor zunächst. Bei seiner Zeitreise berief er sich neben den Forschungsergebnissen der vergangenen 100 Jahre vornehmlich auf erhaltene Grundrisse aus der Zeit vor 1590 und 1663 sowie auf schriftliche Quellen wie die Corveyer Annalen und die „Translatio Sancti Viti“, dem Bericht über die Übertragung der Gebeine des heiligen Vitus von St. Denis an die Weser. Mit dieser Übertragung nahm Corveys Bedeutung als Verehrungs- und Pilgerort immens Fahrt auf.
Den noch früheren Ursprung des Stephanus-Patroziniums belegt ein Dokument aus der Gründungszeit, berichtete Dr. Kempkens: „Wir wissen aus der Fundationsurkunde von 823 von der Schenkung der Stephanus-Reliquien durch Kaiser Ludwig dem Frommen.“ Die Mönche aus Corbie bauten ihre erste Kirche im Weserbogen also direkt auf das Fundament einer großen geistlichen Substanz auf. Diese wurde nach Erzmärtyrer Stephanus gleich mit dem jugendlichen Märtyrer Vitus als zweiten Schutzpatron unterstrichen.
Kirche vom Blitz getroffen
So weihten die Ordensmänner im Jahr 844 zu Ehren zweier großer Glaubenszeugen eine dreischiffige Basilika mit einem von schmalen Seitenschiffen flankierten Langhaus und erhöhtem rechteckigem Chor im Osten, einer an dessen Außenwände angrenzenden rechteckigen Stollenkrypta und einer kleinen Scheitelkapelle (Außenkrypta), aus der das Wellenrankenfries stammt, als Ostabschluss. Für die baulichen Veränderungen weniger als 30 Jahre nach der Weihe nannte Holger Kempkens aus den Corveyer Annalen einen äußeren Anlass: „Bei einem Gewitterschlag wurde die Kirche vom Blitz getroffen und brannte im Osten aus.“ Das war 870. Dieser Kirchenbrand läutete die zweite karolingische Bauphase ein. Vergrößern mussten die Mönche ihre Kirche wegen des wachsenden Konvents und des Pilgerandrangs nach der Vitus-Translatio ohnehin.
So wurde der rechteckige Chor nach Osten verlegt und durch die Hinzufügung von niedrigeren Querarmen und eines neuen Chorraumes samt Apsis vergrößert. Die um den jetzt halbrunden Chor errichtete Stollenkrypta, die auf ihrer Nordseite auch archäologisch ergraben wurde, so Holger Kempkens, endete in drei nach Osten ziehenden Armen, davon der mittlere mit charakteristischer kreuzförmiger Scheitelkapelle. „Durch die Querarme des Chores erhielt die Kirche nun ihren kreuzförmigen Grundriss“, erläuterte der Referent. Die Größe des Gotteshauses, dessen Verlust trotz der barocken Pracht des Nachfolgerbaus bedauerlich sei, lasse sich auf ein 29,25 Meter langes Langhaus und eine Raumhöhe von 12,45 Metern berechnen. Das Langhaus behielt im Übrigen bis zum endgültigen Abriss der Kirche in der Barockzeit seinen ersten Grundriss des Baues von 844 bei.
Dreiturmanlage im Jahr 885 geweiht
Wiederum aus den „Corveyer Annalen“ zitierend, vergegenwärtigte der Paderborner Museumsdirektor in seinem Vortrag die bis heute erhaltene Erweiterung der karolingischen Klosterkirche nach Westen. Die Quelle berichtet sowohl über den Baubeginn 873 als auch über die Weihe der Dreiturmanlage („tres turres“) im Jahr 885. Unter dem bedeutenden Abt Wibald von Stablo (1146-1158 ) wurde der dritte Turm über dem Johanneschor abgerissen, und das Westwerk erhielt sein heutiges Erscheinungsbild mit der aufgestockten Doppelturmfassade. Ein steinsichtiger Baukörper wie heute war die markante Front aber nicht, erläuterte der Kunsthistoriker. Ansichten aus der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigen die Fassade in Teilen noch verputzt. „Ob das noch der Putz aus dem 9. Jahrhundert war, ist jedoch unklar.“ Nach 1950 sind jedenfalls die letzten Reste des Außenputzes entfernt worden.
Aus der Ursprungzeit haben sich hingegen bis heute Farbreste am Eingangsportal des Westwerks erhalten: Rot, gelb und grün waren kombiniert. „Die Abteikirche hatte einen sehr festlichen Eingang“, schlussfolgerte Dr. Kempkens – um die Besucher dann gedanklich sogleich auch mit in die Erdgeschosshalle hineinzunehmen. An einem der Kapitelle der vier Säulen sind die Akanthusblätter an einer Stelle filigraner ausgearbeitet als an den übrigen. Dies unterblieb dann aber offenbar bei der weiteren Ausführung. „Womöglich ist der Bildhauer gestorben oder nach der Winterpause abgereist oder konnte aus anderen Gründen die Feinarbeit nicht vollenden“, mutmaßte Holger Kempkens.
Auf jeden Fall haben die Baukünstler „die gebaute Architektur durch gemalte Elemente ergänzt und vollendet“, erläuterte der Referent. Von diesen wesentlichen Gestaltungselementen ist im Erdgeschoss nur eine antikisierende Blattranke entlang der Wand des Südseitenschiffs fragmentarisch erhalten. „Was wir heute sehen, ist also vergleichbar mit dem Rohbau, der mit Farbe seine Vollendung erhalten sollte.“
Hochrealistische Raumeindrücke
Das gilt auch für den Johanneschor im Obergeschoss, wo sich Reste von Wandmalereien mit antiken Motiven wie der Odysseus-Szene und farbig akzentuierte Architekturgliederungen wie Kantensäulchen und Bemalungen der Bögen-Unterkanten wenn überhaupt nur in Fragmenten erhalten haben. Dank dieser Reste und digitaler Technologien „können aber hochrealistische Raumeindrücke geschaffen werden die uns einen Blick auf das Erscheinungsbild im späten 9. Jahrhundert erlauben“, verwies der Referent auf die virtuelle Renaissance des Johanneschores dank einer vom Fraunhofer-Institut entwickelten App.
Diese macht es möglich, dass die sechs Stuckfiguren auf den Arkadenzwickeln des Quadrums vor den Augen der Betrachtenden auf dem Bildschirm eines Tablets virtuell wiedererstehen. Das Figurenprogramm lässt – wie auch der Zweck der imposanten Westempore – verschiedene Deutungen zu. Waren es Stifter, Propheten oder Märtyrer? Diese Frage gehört zu den Geheimnissen Corveys. Für Dr. Kempkens spricht auch vor dem Hintergrund der theologischen Auslegung des Johanneschors als irdisches Abbild des Himmlischen Jerusalems einiges dafür, dass die vier männlichen und zwei weiblichen Figuren Märtyrer und Jungfrauen im Kontext einer himmlischen Hierarchie darstellen sollten.
An dieser Stelle kommt das Ostergrab als mögliche Nutzungsidee für die große Öffnung der Westempore ins Spiel, erläuterte der Kunsthistoriker. Denn auf der Westseite stehen die beiden Frauenfiguren. Sie passen in die Szenerie, weil es Frauen waren, die am dritten Tag nach Christi Tod das leere Grab vorfanden und als erste dem Auferstandenen begegneten.
Vergleichsbauten bieten Anregungen zum Nachsinnen
Für die Deutung als Herrscherloge beleuchtete der Referent ebenfalls Argumente. Die Aachener Konzeption eines Emporenthrons im kirchlichen Zentralbau spreche dafür. Dr. Kempkens verwies auf Bildzeugnisse mit Darstellungen Karls des Kahlen. In diesen und weiteren Quellen sei der Herrscher in einer Kirchenraumsituation auf einer Thronempore dargestellt. „Überträgt man diese Vorstellung auf Corvey, säße der Herrscher auf der Westempore und die Stuckfiguren entsprächen den Begleitfiguren der Thronbildnisse.“
Beide Theorien boten Gelegenheit zum Nachsinnen, was viele Zuhörerinnen und Zuhörer beim anschließenden Glas Wein nach dem Vortrag im Gedankenaustausch miteinander und auch im Gespräch mit dem Referenten des Abends taten.
Anregungen dazu boten auch die Vergleichsbauten für die karolingische Klosterkirche, die der verdiente Corvey-Forscher Professor Dr. Uwe Lobbedey als „Inkunabel der abendländischen Architekturgeschichte“ apostrophiert. Anlehnend an die Ikonographie des plastischen Figurenschmucks des Johanneschors finden sich, so Dr. Kempkens, allerdings erst wieder seit dem 11. Jahrhundert gemalte und stuckierte Zwickelfiguren. Als Beispiel zeigte er Propheten im Mittelschiff von S. Angelo in Formis. In der ehemaligen Stiftskirche Bad Gandersheim hat sich die Stuckfigur eines Apostels oder Propheten erhalten. Und in St. Michael in Hildesheim haben die Seligpreisungen im südlichen Seitenschiff ebenfalls in Form von Stuck figürlich Gestalt angenommen. Als Vorbild für Corvey kommen Fresken und Stuckfiguren aus der Zeit um 760 in Cividale, S. Maria in Valle, in Frage.
Mindener Dom ist Tochterbau
Wie die untergegangene karolingische Basilika in ihrer Raumwirkung ausgesehen haben könnte, zeigte der Referent anhand von Bauten wie der St.-Justinus-Kirche in Frankfurt-Höchst (um 830/850), die bis auf den spätgotischen Chor in ihrem Grundriss mit steil proportioniertem Mittelschiff erhalten geblieben ist. Die Einhardsbasilika in Michelstadt-Steinbach lässt in ihrer Ähnlichkeit Rückschlüsse auf das Langhaus der abgerissenen Klosterkirche und das Kryptensystem zu. Um 800 errichtet wurde die ehemalige Abteikirche St. Philibert in Saint-Philbert-de-Grand-Lieu in Westfrankreich. Aufgrund des baldigen Bedeutungsverlustes des Klosters lässt sich in dieser Kirche der seitdem kaum veränderte Bauzustand nach der ersten Zerstörung durch die Normannen 847 bis heute ablesen.
Den Hildesheimer Mariendom und auch den Dom in Halberstadt stellte Dr. Kempkens ebenfalls mit Ähnlichkeiten zu Corvey vor, die jeweils eine besondere Verwandtschaft im Bereich der umlaufenen Außenkrypta zeigen, in Halberstadt sogar mit kreuzförmiger Scheitelkapelle. Für das Westwerk zeigte er ein nicht weit entferntes Vergleichsbeispiel: „Der engste Tochterbau, der in direkter Nachfolge Corvevs steht, ist der Dom in Minden.“ Dieser wurde um 930/950 errichtet und wiederholte in reduzierter Form das Bauschema des Corveyer Westwerks. Erhalten sind davon jedoch nur noch die beiden Türme der Front, im 12. Jahrhundert integriert in den heuteigen Westriegel.
Ein letztes Mal aufgriffen wurde das Corveyer Bauschema mit der charakteristischen Dreiturmgruppe, bestehend aus den beiden Fronttürmen und dem dahinter zurückgesetzten Hauptturm, bei der Abteikriche von Maursmünster (Marmoutier) im Elsass. Das dortige Westwerk entstand um 1140/1150, also nur kurz bevor Abt Wibald von Stablo in Corvey den mittleren Turm abbrechen ließ.
Die Antikenrezeption, für die Corvey ein prägnantes Beispiel ist und mit der die Benediktinerabtei im kommenden Jahr im Mittelpunkt einer großen Ausstellung im Diözesanmuseum stehen wird, schwang nicht nur im Vortrag immer mit, sondern spielte auch im Musikprogramm eine Rolle. In einem von Kalle Noltenhans kreierten, ansprechenden Film erinnerte ein von Georg Rox komponiertes Musikstück an die 2015 bis 2017 durch den IS zerstörte antike Ruinenstadt Palmyra.
Text: Sabine Robrecht