Zeitgemäße Entdecker-Tools nehmen einem besonderen Ort nicht seine Würde. Im Gegenteil. Multimediale Technologien haben das Potenzial, die Aura einer Erinnerungsstätte zu unterstreichen und den Menschen ihre Alleinstellungsmerkmale viel eindrücklicher als mit Schautafeln zu vermitteln. Diese großartigen Möglichkeiten erschließt ein interdisziplinäres wissenschaftliches Kompetenzteam zurzeit für das Weltkulturerbe Corvey. Wie – das haben Studierende des Studiengangs Kunstgeschichte der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf jetzt vor Ort erfahren können. Im Rahmen eines Seminars zum karolingischen Westwerk unter der Leitung von Dr. Nicolás Menéndez González unternahm die Gruppe eine Exkursion zum Benediktinerkloster am Weserstrand.
Die Studierenden gewannen an diesem Vormittag einen Eindruck davon, wie eine der kleinsten Kirchengemeinden Deutschlands ein Baudenkmal internationalen Ranges verantwortet, für Gäste öffnet und zugleich auch das alltägliche Gemeindeleben aufrechterhält. „Wir haben hier nicht nur ein historisches Baudenkmal, sondern auch eine Kirche, die genutzt wird“, erläuterte Annika Pröbe die Besonderheit Corveys. Die Mediävistin gehört zum wissenschaftlichen Kompetenzteam der katholischen Kirchengemeinde St. Stephanus und Vitus, das die Sicherung der Bausubstanz und auch die didaktische Erschließung des Westwerks betreut. Mit Dr. Menéndez arbeitet sie in Sachen Corvey eng zusammen. Der Wissenschaftler ist Referent für Baudenkmalpflege im NRW-Bauministerium und Ansprechpartner für das UNESCO-Welterbe im Land Nordrhein-Westfalen. Im Rahmen seines Lehrauftrags an der Uni Düsseldorf leitete er nun das Corvey-Seminar und führte die Studierenden gemeinsam mit Annika Pröbe und dem geschäftsführenden Vorsitzenden des Kirchenvorstandes, Josef Kowalski, an die Original-Schauplätze ihrer Studien.
Wissenschaftler erheben Klimadaten
Diese zeigten sich ihnen nicht nur in ihrer Besonderheit, sondern auch in der herausfordernden Aufgabenstellung, der sich Annika Pröbe und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter mit Sachverstand und Leidenschaft stellen. Restauratorische Arbeiten sind das eine, das Raumklima ist das andere, wenn es um den Substanzerhalt geht. Mit einem ständigen Klimamonitoring erheben die Wissenschaftler seit 2013 permanent Klimadaten. Annika Pröbe: „Wir haben drei Klimazonen, die sich gegenseitig beeinflussen: die Kirche, das Westwerk und den Johanneschor.“ In einer Klima-AG behalten Restauratoren, Klimaforscher und andere Experten die Messdaten im Blick und beraten, was zu tun ist, falls Gefahren drohen. „Wir können Maßnahmen treffen, die das Klima regulieren“, sagt Annika Pröbe.
Das gilt auch dann, wenn die geplante Glaswand zwischen der Erdgeschosshalle des Westwerks und der barocken Abteikirche eingebaut ist. Diese trennt den Sakralraum bei Gottesdiensten vom touristischen Betrieb, so dass beides möglich ist, und kann gleichzeitig zu 95 Prozent blickdicht geschaltet werden und als Projektionsfläche dienen. Als solche nutzt das Kompetenzteam die Wand im Zuge der multimedialen Erschließung für einen Acht-Minuten-Film zur mittelalterlichen Geschichte Corveys. Dieser endet mit der Simulation der untergegangenen karolingischen Basilika und lässt die Erdgeschosshalle mithin im Licht ihres ursprünglichen Charakters erscheinen. Sie war nämlich nicht wie jetzt ein Schwellenraum, der die Besucher in die barocke Pracht der Kirche hineinzieht, sondern ein eigenständiger, repräsentativer Raum. Hier wurden die Könige und Kaiser empfangen, die im Mittelalter in Corvey Hof hielten, wie Josef Kowalski den Gästen in seinen Erläuterungen zur Vergangenheit und zur Bedeutung Corveys eindrücklich schilderte.
Fesselnde Raumeindrücke
Wenn auf der Glaswand die schlichte Klosterkirche virtuell entsteht, wird die gewölbte Halle mit ihren Säulen und den als Schöpfungen der karolingischen Renaissance so hochbedeutenden korinthischen Kapitellen in ihrer einstigen Bedeutung erlebbar. Seminarleiter Dr. Menéndez geht von fesselnden Raumeindrücken aus und richtete im Gespräch noch einmal den Fokus auf den Aspekt der Vereinbarkeit des touristischen Betriebs und der liturgischen Nutzung, die Corvey seit 1200 Jahren prägt. Die Glaswand, deren Türen auch geöffnet werden können und sollen, sei eine innovative Lösung.
Ein weiterer Anziehungspunkt wird der Johanneschor, das Herz der Welterbestätte, sein. Mit Hilfe der Augmented Reality wird er in seiner ursprünglichen Farbigkeit und mitsamt den Stuckfiguren, deren rote Pinselvorzeichnungen in sechs Arkadenzwickeln erhalten sind, vor Ort virtuell zu sehen sein. Wie farbig das Westwerk war, erläuterte Annika Pröbe den Gästen der Uni Düsseldorf schon vor dem Betreten. Draußen am Portal haben Farbspuren die Jahrhunderte überdauert. Und drinnen, im Erdgeschoss und oben im Johanneschor, sind Wandmalerei-Fragmente von geometrischen Formen und Arkanthus-Ranken und bis hin zu figürlichen Darstellungen wie der berühmten Odysseus-Szene erhalten. „Anhand dieser Fragmente können wir die Ausgestaltung des Westwerks rekonstruieren.“ Einen besonderen Reiz habe die Augmented Reality auch wegen ihrer Offenheit: „Wir können neue Erkenntnisse und Forschungsergebnisse immer einpflegen.“
Barrierefreie Erschließung
Annika Pröbe und Josef Kowalski berichteten aber auch über ein weiteres dickes Brett, das es zu bohren gilt: die barrierefreie Erschließung jenes Sakralraums im Obergeschoss, in dem, wie Josef Kowalski schilderte, bei den Königs- und Kaiserbesuchen auch Politik gemacht wurde. Dr. Menendez informierte die Studierenden über die Machbarkeitsstudie, bei der Spezialisten Möglichkeiten auch im Hinblick auf die Kulturverträglichkeit des Bauvorhabens ausloten. Bei den Varianten, die vorliegen, sei es gelungen, keinerlei karolingische Substanz zu gefährden. Der Zugang soll vom angrenzenden barocken Domänengebäude aus erfolgen.
Glaswand, Augmented Reality, Klimamonitoring, barrierefreie Erschließung: „Das alles sind Projekte, die ineinandergreifen“, bilanzierte Josef Kowalski. „Sie sind hochkomplex. Es muss alles durchdacht sein. Wir sind aber auf einem guten Weg.“
Auf den Weg machte sich der geschäftsführende Kirchenvorstandsvorsitzende dann zusammen mit Annika Pröbe und den Gästen ins Schloss, das in der Obhut der herzoglichen Familie von Ratibor liegt und mit der Fürstlichen Bibliothek einen imposanten Schatz beherbergt. Die Besucherinnen und Besucher waren beeindruckt. „Wir haben einen großartigen historischen Überblick erhalten. Ich werde mir die Glaswand und die multimediale Präsentation auf jeden Fall anschauen“, sagte eine Studentin. „Mich haben die Historie und die verschiedenen Stile und Epochen beeindruckt“, resümierte ein Kommilitone.
Seminarleiter Dr. Menéndez berichtete, dass er als Student an seiner Universität in Spanien bereits von Corvey gehört habe. Als Beauftragter für das UNESCO-Welterbe im Land Nordrhein-Westfalen ist er jetzt in die Erschließung dieses Erinnerungsortes involviert. „Es ist mir eine große Ehre, mit Corvey zusammenzuarbeiten und dabei zu helfen, diesen Ort nach vorne zu bringen.“ Das Westwerk sei aufgrund der Rezeption antiker Baukunst im neunten Jahrhundert ein Unikat.