JubiläumPresseZEITREISE Corvey

Zeitreise in die Blütezeit des Klosters Corvey

By 17. Mai 2023März 18th, 2024No Comments

Als die karolingische Basilika der ehemaligen Benediktinerabtei Corvey nach dem Dreißigjährigen Krieg durch das barocke Langhaus ersetzt wurde, ist der vorgelagerte Westbau dem Abriss und Neubau entkommen. Womöglich reichte das Geld nicht.

Dr. Sveva Gai gestaltete die zweite Etappe der Zeitreise. Wir haben ihren Vortrag zum Nachlesen dokumentiert. <strong>Sie finden den Link  am Ende des Beitrages</strong>. Foto: Kirchengemeinde Corvey

Dr. Sveva Gai gestaltete die zweite Etappe der Zeitreise. Wir haben ihren Vortrag zum Nachlesen dokumentiert. Sie finden den Link  am Ende dieses Beitrages.

Der Baustopp von damals ist heute ein Segen. Er lässt uns fasziniert auf ein Weltdenkmal mit mehr als 1000-jähriger Geschichte schauen. Dr. Sveva Gai, Stadtarchäologin aus Paderborn und profunde Kennerin der Baugeschichte der Klosterkirche am Weserstrand, geht davon aus, dass vermutlich finanzielle Schwierigkeiten die Durchführung der kompletten Planung verhinderten. In der barocken Abteikirche nahm sie einen erfreulich großen Zuhörerkreis mit auf die zweite Etappe der „Zeitreise“ in Corveys große Geschichte.

Die Reise führte ins frühe Mittelalter – in die Jahre und Jahrzehnte nach Gründung dieses bedeutenden Klosterortes –, aber auch in die jüngere Geschichte – die Zeit umfassender archäologischer Forschungen. Die Wissenschaftlerin vermittelte eine Vorstellung davon, wie die 844 den Heiligen Stephanus und Vitus geweihte karolingische Kirche in ihrer ersten Ausgestaltung und auch in den folgenden beiden Bauphasen mitsamt dem 873 bis 885 ergänzten Westbau ausgesehen hat. Grundlage sind fundierte Erkenntnisse: „Mehr als 40 Jahre stand die Klosterkirche Corvey im Mittelpunkt der archäologischen und bauhistorischen Forschungen des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe, der Baudenkmalpflege auf einer Seite und der Archäologie auf der anderen.“

Atrium bei Grabungen in den 1990ern entdeckt

In dem Zusammenhang seien Dr. Hilde Claussen und Professor Dr. Uwe Lobbedey zu erwähnen, die einen großen Teil ihres Berufslebens dieser vollständigen Erforschung der Klosterkirche Corvey gewidmet hätten. Dr. Gai erinnerte an Grabungskampagnen – Mitte der 1970er-Jahre im fast kompletten Innenbereich der Kirche, in den 1980ern im Bereich des Kreuzgangs und in den 1990er Jahren im Vorhof der Kirche. Hier wurde das Atrium entdeckt.

Dr. Sveva Gai mit Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek und dem Archäologen Ralf Mahytka. Er betreut den Archäologiepark im Weserbogen, der die versunkene Stadtwüstung Corvey erlebbar macht, und stellte zu Beginn des Zeitriese-Abends die Referentin und ihre wissenschaftliche Arbeit vor. Fotos: Kirchengemeinde Corvey

Dr. Sveva Gai mit Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek und dem Archäologen Ralf Mahytka. Er betreut den Archäologiepark im Weserbogen, der die versunkene Stadtwüstung Corvey erlebbar macht, und stellte zu Beginn des „Zeitreise“-Abends die Referentin und ihre wissenschaftliche Arbeit vor. Fotos: Kirchengemeinde Corvey

Dieser Vorhof erstreckte sich westlich der Kirche und war in seiner Gesamtlänge größer als der Kirchengrundriss, so Dr. Gai. Freigelegte Reste von Strukturen im Innenhof ließen das Vorhandensein eines Eingangstors rekonstruieren. „Zwei Brunnen, aneinander symmetrisch angeordnet, befanden sich im Innenhof. Dieser war von einem nördlichen und einem südlichen Arkadengang umgeben“, berichtete die Archäologin.

Das Atrium muss schon zur 844 geweihten ältesten Kirche dazugehört haben, erläuterte sie. Als die Mönche dann knapp 40 Jahre später das Westwerk vorbauten, sei es weiter nach Westen versetzt worden.

Atria seien ein wichtiger Bestandteil römischer Kirchen gewesen, die über das Grab eines Märtyrers gegründet wurden, erläuterte die Referentin. „Sie entwickelten sich zu wichtigsten Pilgerorten, und die Kirchenbesucher nutzten einfach die Möglichkeit, sich in den Kirchenvorhöfen aufzuhalten.“ So auch in Corvey. Nach der Übertragung der Reliquien des hl. Vitus von St. Denis sei die Weserabtei Anziehungspunkt großer Menschenmengen geworden. Das schon vorhandene Atrium habe mithin eine zusätzliche  Aufgabe als Ort für den Empfang der Pilger bekommen.

Die Kirchenvorhöfe seien aber auch Orte für öffentliche Märkte und vermutlich auch für Bestattungen gewesen. Auch in Corvey gebe es archäologische Hinweise darauf, dass Gräber von Laien im Atrium vorhanden waren.

Die zweite Etappe der Zeitreise in der Abteikirche Corvey war wieder erfreulich gut besucht.

Die zweite Etappe der Zeitreise in der Abteikirche Corvey war wieder erfreulich gut besucht.

Die Übertragung der Vitus-Reliquien gab Anlass zur zweiten Bauphase der Kirche, wie Sveva Gai erläuterte. Denn das Kloster habe sich zum wichtigsten Zentrum der Missionierung im Norden entwickelt und sei ein bedeutender Ort für Wissenschaft und Kunst geworden. „Der stark gewachsenen Klostergemeinschaft reichte der zur Verfügung stehende Platz nicht mehr; ein neuer Chor war notwendig.“

Also wurde kurz nach der Weihe der Kirche schon wieder gebaut. Der rechteckige Chor sei nach Osten verlegt und durch die Hinzufügung einer runden Apsis vergrößert worden. „Die ältere Krypta wurde aufgelassen und verfüllt und um den jetzt halbrunden Chor eine Stollenkrypta errichtet.“

Die Pilger hätten durch die Seitenschiffe in die Krypta gelangen können, wo das Grab des heiligen Vitus gestanden habe, ohne den Chordienst der Mönche zu stören. „Das Reliquiengrab kann nur angenommen werden, da kein entsprechender Befund erhalten war. Es fiel sehr wahrscheinlich bei der späteren Absenkung des Chorniveaus dem barocken Neubau vollständig zum Opfer“, berichtete die Archäologin.

Kirchenbau war farbig gefasst

Ausführlich und mithilfe von Abbildungen erläuterte sie die drei karolingischen Bauphasen und vermittelte damit auch Vorstellungen über das Leben im Kloster und die Bedeutung der Abtei in ihrer gleich im 9. Jahrhundert beginnenden Blütezeit. Der erste Kirchenbau sei farbig gefasst gewesen und habe über eine außergewöhnliche Ausstattung von hoher künstlerischer Qualität verfügt. „Das belegen zahlreiche Putzfragmente, die während der Ausgrabung geborgen wurden.“ Der Kirchenfußboden und Teile der Wände seien, so ließen archäologische Funde vermuten, mit geometrischem Muster, also Fliesen aus Stein, aber auch Porphyr und weißem Marmor, ausgestattet gewesen.

Zur frühen Ausstattung der Kirchenfassade habe vermutlich auch die Inschriftenplatte gehört, die im späteren 9. Jahrhundert in Zweitverwendung an der Westwerkfassade angebracht worden sei. Eine Kopie befindet sich noch heute an der markanten Doppelturmfront.

Mit ansprechenden Filmsequenzen rundeten die Musikbeiträge den Zeitreise-Abend in der Abteikirche Corvey ab.

Mit ansprechenden Filmsequenzen rundeten die Musikbeiträge den Zeitreise-Abend in der Abteikirche Corvey ab.

Abt Wibald ließ Mittelturm abbrechen

Diese war in karolingischer Zeit eine Dreiturmanlage. Dr. Sveva Gai skizzierte die karolingische Gründungsgestaltung und ihre Veränderung durch den bedeutenden Abt Wibald von Stablo (1146 – 1158). Er ließ den Mittelturm Mitte des 12. Jahrhunderts abbrechen. „Der Fassadenteil wurde mit einem Glockengeschoss zwischen den beiden Türmen aufgestockt. Die karolingische Gestaltung wurde also mit einer romanischen, zeitgemäßen Zweiturmfassade erneuert“, berichtete Dr. Gai. Dieser Umbau und auch die Errichtung eines neuen Abtshauses zeuge von der Blütezeit des Klosters. Den zweiten gründlichen Umbau unter Fürstabt Theodor von Beringhausen (1585 – 1616) erläuterte die Referentin ebenfalls. Auf ihn gehen die Giebelaufsätze und die langen spitzen Türme sowie die Dächer des Mittelbaus zurück.

Das Westwerk in seinem karolingischen Zustand vor den Umbauten der Romanik und des Barock wiederherzustellen – dieser Gedanke habe schon bei ersten denkmalpflegerischen Auseinandersetzungen vor dem Zweiten Weltkrieg Form angenommen. „Nach ersten Sondierungen vor dem Krieg wurden in den Jahren 1949 bis 1950 durch den ehemaligen Landeskonservator Wilhelm Rave grundsätzliche Arbeiten durchgeführt.“ Diese Umbauten seien der Anfang einer Serie an Untersuchungen und Architekturanalysen sowie an archäologischen Forschungen gewesen.

Es gibt noch viel zu forschen

Es gebe aber noch viel zu forschen, konstatierte die Referentin abschließend und nannte offene Fragen. Die genaue Ausdehnung des Atriums nach Westen sei noch nicht endgültig geklärt. „Für den Gesamtkomplex der Klosteranlage der Mönche liegen – abgesehen von wenigen Bodenbeobachtungen, die nördlich der Kirche (im Jahr 2000) und südlich im Friedhofsbereich (im Jahr 2008) erfolgten – kaum zusammenhängende Erkenntnisse vor. Gleiches gilt für den ehemals umfangreichen, immer wieder umgebauten und erweiterten Wirtschaftshof des Klosters.“

Die in ansprechenden Filmsequenzen auf großer Leinwand eingespielte Musik unterstrich die beflügelnde Wirkung dieser Zeitreise ins frühe Mittelalter und auch in die (Jetzt-)Zeit der intensiven Forschungen. Die Gäste hatten Gelegenheit, die Aura dieses Klosterortes in ansprechenden Bildfolgen zu erleben und das Leben der Mönche und auch die Betriebsamkeit der Grabungskampagnen in Gedanken zu verbildlichen.

Text: Sabine Robrecht