Das letzte Buch der Bibel, die Offenbarung des Johannes, hat ein Happy End. Der Prophet schaut in die Himmelsstadt, die auf die Erde herabkommt und in der Unrecht, Elend, Leid, Zerstörung und alles Todbringende ein Ende haben. Einen Eindruck von diesem großen hoffnungsvollen Finale der Heiligen Schrift vermittelt das karolingische Westwerk, dessen Architektur die Vision des himmlischen Jerusalems – „den Ausblick auf den neuen Himmel und die neue Erde“ – auslegt. Diese theologischen Grundmotive der Rezeption Corveys fächerte Professor Dr. Thomas Söding in der achten Etappe der „Zeitreise“ in Corveys monastische Geschichte mit einer Fülle von Denkanstößen auf.
Die Impulse dieses Vortrags lassen, wie Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek am Ende bilanzierte, die berühmte Inschriftenplatte aus der Gründungszeit des Klosters angesichts der vom Referenten hergestellten Bezüge zur Johannesoffenbarung in einem neuen Licht erscheinen. Und auch die lebensgroßen Stuckfiguren, die vor 1000 Jahren über dem Quadrum des Johanneschores im Obergeschoss des karolingischen Westwerks wachten, ordnete der Lehrstuhlinhaber Neues Testament an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum in die „Bezüge zwischen Corvey, Patmos und Jerusalem“ ein. Patmos deshalb, weil Johannes auf dieser griechischen Insel im ersten Jahrhundert nach Christus seine Apokalypse (übersetzt: Offenbarung) schrieb. Er lebte dort wegen seines Glaubens in der Verbannung.
Neutestamentlicher Prophet
„Johannes ist ein neutestamentlicher Prophet“, erläuterte Professor Söding in der ehemaligen Abteikirche vor einem wie immer bei der Vortragsreihe erfreulich großen Zuhörerkreis. „Das Buch trägt ganz und gar seine Handschrift, die Handschrift eines großen Schriftstellers. Aber das Buch trägt ebenso ganz und gar die Handschrift Gottes: Johannes ist ein inspirierter Autor“, machte der Wissenschaftler die Gäste mit dem Seher Johannes und dem Verständnis seines Werks als Verheißung vertraut.
Einer breiten Öffentlichkeit bekannt ist der Referent dieses Glanzlichts im Jubiläumsprogramm „1200 Jahre Corvey“ aus seinem Wirken als Vize-Präsident des Zentralkomitees der Deutschen Katholiken (ZdK) und des Synodalen Weges. Von Papst Franziskus ist er in die Weltsynode im Herbst in Rom berufen worden. Vor dem Publikum in Corvey stand also, wie Professor Dr. Christoph Stiegemann bei der Vorstellung des Redners betonte, ein „Hoffnungsträger vieler Katholiken“. Die beiden Wissenschaftler kennen sich aus Paderborn: Thomas Söding besuchte mit seinen Studenten einige der großen Ausstellungen, die Christoph Stiegemann als Direktor des Diözesanmuseums in der Domstadt kuratiert hat. Aus dieser Verbundenheit heraus konnte der heutige Leiter des wissenschaftlichen Kompetenzteams der Kirchengemeinde Corvey den profilierten Neutestamentler mit internationalem Ruf nun für die „Zeitreise“ gewinnen.
Professor Söding kennt Corvey aus Kindertagen
Diese begann Professor Söding mit einem kurzen Exkurs in seinen frühen persönlichen Corvey-Bezug: Seine Mutter stammt aus dem nahe gelegenen Dassel. Daher kennt er Corvey aus Kindertagen. Und ahnte damals schon, wie er erzählte, dass die ehemalige Benediktinerabtei im Weserbogen ein großer Ort ist – wenngleich sich ihm angesichts fehlender Lateinkenntnisse als Grundschüler der Text der Inschriftenplatte, von der eine Kopie an der Fassade des Westwerks zu sehen ist, noch nicht erschließen konnte.
Bevor er die Inschrift am „Zeitreise“-Abend deutete, führte Söding anhand eines 1965 von der Benediktinerin Silja Walter geschriebenen und 1972 von Josef Anton Saladini zu einem Kirchenlied vertonten Gedicht zum himmlischen Jerusalem in die Offenbarung selbst ein. „Eine große Stadt ersteht, die vom Himmel niedergeht in die Erdenzeit“: Schon in diesen ersten Zeilen zeige sich, dass das himmlische Jerusalem für Johannes keine Zukunftsmusik ist, sondern „schon die Größe einer verborgenen Gegenwart“.
Johannes schaut, bevor er diese Vision entwirft, zunächst in den Abgrund dessen, was Menschen auf Erden einander und der Schöpfung antun. Die Offenbarung zeigt, so Professor Söding, „was mit der Welt passiert, wenn nicht Gott die Ehre gegeben wird, sondern der Mensch selbst Gott sein will: Dann wird die Politik verabsolutiert; Geld regiert die Welt; die Reichen und Mächtigen werden vergöttert; nach den Armen, den Kranken, den Schwachen kräht kein Hahn. Die apokalyptischen Katastrophen, die sich genau dann und genau so ereignen – in keinem Buch der Bibel werden sie in ihrer ganzen Härte klarer vor Augen gestellt als in diesem Buch“.
Schonungslose Bestandsaufnahme
Die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, die sich angesichts dieser schonungslosen, bildreichen Bestandsaufnahme stellt, erfahre ganz in der Linie der jüdischen Apokalyptik eine eschatologische Wende: „Es kann nicht sein, dass der gerechte Gott die Ungerechten siegen lässt. Wenn seine Gerechten nicht in dieser Welt Recht bekommen, dann muss es eine neue Welt geben, nach dem Untergang der alten, die im Würgegriff der Sünde und des Todes steht.“ Über die Schöpfung des alttestamentlichen Buchs Genesis sei durch die Schuld des Menschen Unheil gekommen, das Vielen das Leben zur Hölle macht.
Was nach dem politischen, ökonomischen, moralischen und religiösen Untergang bleibe, sei das himmlische Jerusalem. „Es wird hervortreten und die neue Schöpfung erfüllen, obwohl alles untergegangen ist, was Menschen sich aufgebaut haben. In diese heilige Stadt kommt nichts hinein, was den Tod bringt, aber alles, was Leben in sich trägt.“ Das Licht dieses ewigen Lebens – davon sei Johannes zutiefst überzeugt – gehe von Christus selbst aus.
Für diese Hoffnungsvision entwirft der Prophet im wahrsten Wortsinn ein Stadtbild: „Und die Stadt ist viereckig, und ihre Länge ist wie ihre Breite“, zitierte Professor Söding aus der Apokalypse (Offb 21,25). Den Zuhörenden kam sogleich der quadratische Grundriss des Westwerks in den Sinn. Dieses sei kein neuer Turmbau zu Babel (Gen 11), sondern halte ein menschliches Maß, das sich vom göttlichen bestimmen lässt“, sagte der Neutestamentler. „Und die Stadt: reines Gold, wie klares Glas. Die Fundamente der Stadtmauer: jedes ein Edelstein“, trug er weiter aus der Offenbarung vor – um auch diese Passage sogleich schlüssig zu deuten: Die Kostbarkeit, von der Johannes schreibt, sei hoch symbolisch und ganz natürlich. „Alle Edelsteine und Edelmetalle sind der Erde abgewonnen und funkeln in einem überirdischen Glanz. Schöpfung und Erlösung stehen in engster Verbindung, Natur und Kultur kommen zusammen.“
Abteikirche Corvey legt Apokalypse aus
Die Abteikirche von Corvey lege die Apokalypse aus – und die Johannesoffenbarung lege die Kirche aus: „Buchstabe und Geist, Stein und Licht, Bild und Liturgie gehören zusammen“, betonte der Theologe. Dass sich Corvey programmatisch auf die Johannesoffenbarung beziehe, sei ein Ausdruck wacher Zeitgenossenschaft im Mittelalter. Der Referent verwies in dem Zusammenhang auf den renommierten Corvey-Forscher Professor Dr. Uwe Lobbedey. Dieser hatte einmal betont, dass zwar jede Kirche auf ihre Art ein Abbild des himmlischen Jerusalems sei. Indessen kenne er wenige, für die das so wörtlich zutrifft wie in Corvey.
Die Inschriftenplatte an der Westwerk-Fassade mache den Bezug zur Offenbarung explizit, erläuterte Professor Söding: „Umhege, o Herr, diese Stadt und lass deine Engel die Wächter ihrer Mauern sein“: Dieses Wort aus dem Stundengebet der Kirche sei eine Anspielung auf die Johannesoffenbarung. Und das Gold der ursprünglichen Prägung der antiken Majuskelschrift entspreche auch dem kostbarsten Konstruktionsmetall des himmlischen Jerusalem.
Angebracht sei die Tafel unter einem Fenster zum Johanneschor, dessen antikisierenden Wandmalereien Professor Söding ebenfalls deutete. Die Stuckplastiken in den Arkadenzwickeln, die zur ursprünglichen Ausgestaltung der Emporenkirche ebenfalls dazugehörten, könnten auf Märtyrer und Jungfrauen hindeuten. Dann würden sie noch engere Bezüge zwischen Corvey, der Offenbarung und der Himmelsstadt Jerusalem herstellen. Professor Söding: „Das Bild der Vollendung, dass die Völker aus der ganzen Welt mit dem Besten, was sie haben, ins himmlische Jerusalem einziehen (Offb 21,24), ist der Resonanzboden für die Integration antiker Bilder und Buchstaben in die Kirche der karolingischen Kultur und des hohen Mittelalters.“
Vorposten des Himmelreiches
„Die Kirche des Johannes ist ein kleiner Vorposten des alle menschlichen Dimensionen überschreitenden Himmelreiches“, brachte Professor Söding eine Auslegung des letzten Satzes der Offenbarung auf den Punkt. Dieser lautet „Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen.“ Corvey gehöre in das weitverzweigte Netzwerk von Klöstern, die Missionierung als Kultivierung verstanden haben und die Taktung der Zeit als Ordnung der Schöpfung. „Deshalb ist dieses Kloster seit 1200 Jahren ein Bollwerk gegen den Fanatismus, ein Denkmal intensiv genutzter Zeit und ein Wegweiser in die Zukunft.“
Musikbeiträge in ansprechenden Filmen rundeten diese denkwürdige Zeitreise in die Himmelsstadt Corvey ab. Die Zuhörenden, von denen viele regelmäßig in der ehemaligen Abteikirche ein- und ausgehen, sehen diesen zum Weltkulturerbe geadelten Klosterort jetzt vielleicht mit anderen Augen.
Einige nahmen aus dieser „Zeitreise“ auch den Vorsatz mit, sich mit der Offenbarung des Johannes intensiver zu beschäftigen. Dazu beflügeln die so fundiert wie beherzt vorgetragenen, tiefsinnigen Einblicke in eine Vision, deren Hoffnungsbotschaft die Menschen einst zur Erschaffung unsterblicher Kraftorte wie Corvey inspiriert haben.
Text: Sabine Robrecht