Zwischen den Konfessionen in Höxter herrscht Zwist. Und auch um das Verhältnis der Stadt zur Abtei Corvey ist es nicht gut bestellt: In diese unruhige Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg – konkret ins Jahr 1673 – hat die sechste Etappe der „Zeitreise“ im Rahmen des Corvey-Jubiläums geführt: Professor Dr. Lothar van Laak, Paderborn, stellte Wilhelm Raabes historische Novelle „Höxter und Corvey“ in den Mittelpunkt eines lehrreichen Vortrags.
Der aus Eschershausen stammende Schriftsteller Wilhelm Raabe (1831 – 1910) gehört zu den bedeutendsten Erzählern des poetischen Realismus. Mit seiner Erzählkunst greift er vorwiegend historische Themen auf. Allerdings belässt er es zumeist nicht bei der Rückschau, sondern verknüpft die erzählten Geschichten mit seiner Zeit.
Kirchenstreit in Höxter noch nicht beendet
So auch bei der Erzählung „Höxter und Corvey“: Sie spielt in einer Dezembernacht des Jahres 1673 und erzählt von einem Pogrom aufgebrachter Katholiken und Lutheraner an den Juden Höxters. Zwei Freunde, der greise Corveyer Benediktinermönch Heinrich von Herstelle und der Student Lambert Tewes, verhindern das Schlimmste.
Wilhelm Raabe schreibt die Novelle im November 1873. In diesem Jahr ist das junge deutsche Kaiserreich in eine Wirtschaftskrise gerutscht. Dieser „Gründerkrach“ befeuert den Antisemitismus, den Raabe auch in seiner Erzählung „Höxter und Corvey“ thematisiert.
Wie der Schriftsteller die Situation seiner Gegenwart in den 70-er Jahren des 19. Jahrhunderts in dem erzählten Geschehen spiegelt, erläuterte Lothar van Laak, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Paderborn, vor einem großen Zuhörerkreis in der ehemaligen Abteikirche Corvey. „Das geschilderte Ereignis wird in eine Zeit der Unordnung situiert.“
Das macht Raabe gleich zu Beginn seiner Erzählung deutlich: „Wir haben unsern Lesern immer gern die Tageszeit geboten, aber so schwer wie diesmal ist uns das noch nie gemacht worden. In der Stadt Höxter waren die Turmuhren sämtlicher Kirchen in Unordnung; Sankt Peter und Sankt Kilian zeigten falsch, Sankt Nikolaus schlug falsch und bei den Brüdern stand das Werk ganz still“, lässt er den als kollektives „Wir“ auftretenden Erzähler auf die Unruhe im Höxter nach dem Dreißigjährigen Krieg verweisen.
Sogleich setzt er aber nach, dass in Corvey, wo der Münsteraner Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen seit 1661 als Administrator wirkt, die Lage stabil erscheint: „Nur auf Stift Corvey, eine Viertelstunde abwärts am Fluss, befand es sich noch in geziemlicher Ordnung und hatte sich auch eine Hand gefunden, die es darin erhielt und es zur rechten Zeit aufzog.“
Höxter ist zu dieser Zeit Hauptstadt des Territoriums der Fürstabtei Corvey. Christoph Bernhard von Galen beendet 1674 mit seinem „Gnadens- und Segens-Rezess“ den Kirchenstreit in dieser Stadt: St. Kiliani und die Petrikirche, die am heutigen Stadthaus stand, bleiben protestantisch. St. Nikolai am Klaustor und St. Marien werden wieder katholisch. Die Franziskaner-Mönche kehren in ihr Kloster zurück.
Französische Truppen zerstören Weserbrücke
Dieser Religionsfrieden ist in Wilhelm Raabes Erzählung noch nicht erreicht. Die Handlung spielt kurz nach dem Abzug der französischen Truppen, die der Administrator Corveys in Höxter einquartiert hat. Die Soldaten zerstören vor ihrem Weggang 1673 die Weserbrücke. Eine Fähre hält den Verkehr zwischen beiden Ufern notdürftig aufrecht. Bis 1832 wird es in Höxter keine Weserbrücke geben.
Zurück zu Wilhelm Raabe: Die, so Professor von Laak, „erfundenen, aber historisch anmutenden Ereignisse“ konzentrieren sich auf eine einzige, von Hass und Zerstörungswut geschüttelte Nacht im Dezember 1673. In dem tumultartigen Geschehen bricht sich das leidvolle Erleben eines halben Jahrhunderts seit dem Dreißigjährigen Krieg Bahn. Die geballte aufgestaute Wut zwischen den Konfessionen richtet sich plötzlich gegen die Juden der Stadt. Die braven Bürger wollen alle Juden vor die Stadtmauer verbannen.
Zu Beginn setzen der Benediktinermönch Heinrich von Herstelle, die greise Jüdin Kröppel-Leah und Pastor Helmich Vollbort mit dem barschen Fährmann Hans Vogedes von Lüchtringen aus nach Höxter über. Die Jüdin Leah hat ihre Erbschaft aus Gronau bei Hildesheim geholt. Am Ufer treffen sie auf den Studenten und Neffen des Pastors, Lambert Tewes.
Der Fährmann und zwei Spießgesellen sind auf die Gronauer Erbschaft der Kröppel-Leah aus. Mit einer Axt verschaffen sie sich in jener Dezembernacht Zutritt zu der Wohnung der alten Frau und ihrer Enkelin Simeath. Bruder Heinrich und Lambert Tewes kommen zur rechten Zeit zur Hilfe: „Der brave Fährmann Hans Vogedes hielt eben die Greisin auf dem Boden, ihr die Gurgel zusammendrückend; sein einer Raubgenosse zog mit groben Fäusten die zeternde Simeath an den Haarflechten durch das Kämmerchen, der andere der Halunken hatte bereits das armselige Bündel mit der Gronau’schen Erbschaft unter dem Tische hervorgezerrt, kniete gierig wühlend und verstreute fluchend den Inhalt um sich her auf dem schmutzigen Boden.“
Bei der zweiten nächtlichen Attacke auf die inzwischen fiebernde Leah und ihre Enkelin Simeath geht es darum, alle Juden vor die Stadtmauer zu setzen. So wollen es Höxteraner Bürger. Der Pöbel brennt auch Meister Samuels Haus nieder. Student Lambert bringt die obdachlose Familie unter.
Student zitiert Horaz
Wilhelm Raabe lässt den jungen Mann eine bittere Einschätzung treffen: „’Höxter und Corvey!’ sagte er finster. ‘Meine luther’schen Väter standen für Stadt und Stift. Die Liga war’s, die Höxter in Trümmer legte und Sankt Viti Sarkophagen zerbrach. Eure fremdländischen Obersten und Kavaliers waren es, die die Gebeine unter sich verteilten, welche der Kaiser Ludwig hieher an die Weser getragen hatte.’“ Der Autor nimmt hier Bezug auf die im Dreißigjährigen Krieg verloren gegangenen Reliquien des heiligen Vitus, die 836 in einem glanzvollen Triumphzug aus St. Denis bei Paris ins damals junge Kloster Corvey transloziert worden waren und die Bedeutung der Weserabtei als Verehrungs- und Pilgerort begründeten.
Der Student Lambert Tewes, der immer wieder den antiken römischen Dichter Horaz zitiert, soll ob seines beherzten Handelns in jener Nacht Bürgermeister von Höxter werden. Dieses Angebot schlägt er aus. „Ich komme wieder“, kündigt er am Ende der Novelle an.
Professor van Laak hat den Zuhörenden in der Abteikirche Corvey viele Denkanstöße in der Rezeption der Erzählung Raabes gegeben. Der Vortrag regte an, die Novelle noch einmal oder auch zum ersten Mal zu lesen – und dabei über die mehrmals leitmotivisch eingewobenen Horaz-Zitate nachzusinnen oder auch über die vom Referenten angesprochene Schwierigkeit, auf erzählter und erzählender Ebene eine Ordnung herzustellen. Denn in der Nacht, um die es geht, sind die Turmuhren sämtlicher Kirchen in Unordnung.
„Zeitreise“ führt zu den Wurzeln der Christlichkeit
Keine Unordnung, aber Unbehagen hatte am Tag des „Zeitreise“-Vortrags eine aktuelle Nachricht ausgelöst: Es war bekannt geworden, dass 2022 mehr als 500.000 Menschen aus der katholischen Kirche ausgetreten sind. Kirchenvorstand Josef Kowalski zitierte eine pessimistische Einschätzung des Kirchenrechtlers Thomas Schüller, der gesagt hat: „Die katholische Kirche stirbt einen quälenden Tod vor den Augen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.“ So schwarz sieht Josef Kowalski nicht, wie er am „Zeitreise“-Abend betonte. „Die Kirche stirbt nicht. Die Kirchenleitung und wir alle müssen etwas dagegen tun. Eine neue Kultur muss her.“ Synodalität sei Gebot der Stunde.
Die Vortragsreihe im Rahmen des Corvey-Jubiläums sei ein Medium, um uns zurückzuführen zu den Wurzeln der Christlichkeit. „Wir müssen fähig bleiben, die Dinge zu verändern – jeder an seiner Stelle. Dann schlagen wir Scharniere auf für die junge Generation.“ Von der „Zeitreise“ in Corveys große klösterliche Geschichte könnten dazu Impulse ausgehen.
Das ansprechende Musikprogramm mit Hans-Hermann Jansen an der kostbaren Barockorgel rundete die sechste Etappe ab. Die Weinverkostung zum Schluss bot Gelegenheit zum Gedankenaustausch.
Text: Sabine Robrecht