Jubiläum

Lehrreiche Einblicke in Corveys Reliquienschatz

By 7. November 2023März 6th, 2024No Comments

St. Martin, der seinen Mantel teilte, war Patron von Corveys Vorgängergründung Hethis im Solling. Am 822 bezogenen neuen Standort des Klosters an der Weser erinnert bis heute eine Reliquie an den populären Heiligen und Bischof von Tours. Sie hat einen Platz in einer Vitrine gleich neben der Marienkapelle und ist Teil des Corveyer Reliquienschatzes, dessen Geschichte und Bedeutung die Historikerin Prof. Dr. Hedwig Röckelein aus Göttingen am Gedenktag aller Heiligen, dem 1. November, veranschaulichte.

Allerheiligen 2023 in Corvey: Einblicke in den Reliquienschatz des Klosters Corvey beschließen das Jubiläumsjahr. Professorin Dr. Hedwig Röckelein zeigt ausgewählte Reliquien aus Corveys früher Geschichte. Wir haben die Ansprache der Historikerin zum Nachlesen dokumentiert. Sie finden den Link am Ende des Beitrags. Fotos: Kirchengemeinde Corvey/Sabine Robrecht

Allerheiligen 2023 in Corvey: Nach einem festlichen ARD-Fernsehgottesdienst mit Kameras, Übertragungstechnik und emsiger Betriebsamkeit hinter den Kulissen ist wieder Ruhe eingekehrt in die ehemalige Abteikirche. Als es Abend wird, öffnen sich die Kirchentüren aber noch einmal. Denn der Festtag und das Jubiläumsjahr zum 1200-jährigen Bestehen der ehemaligen Benediktinerabtei Corvey enden mit einer Vesper zu Ehren ihres Reliquienschatzes. Auf einem Tisch nahe der Vitrine mit der Martinsreliquie und dem Armknochen des ersten Corveyer Abtes Adalhard liegen das Haupt des heiligen Ansgar, ein Beckenknochen des Kirchenpatrons Stephanus, der entgegen seiner Beschriftung kein Schulterblatt (scapula) ist, eine Elle des zweiten Schutzpatrons Vitus, eine Beckenhälfte der heiligen Liuttrud und ein Langknochen des heiligen Justinus. Sie sind sonst nicht öffentlich ausgestellt. Prof. Dr. Röckelein hat sie zur Anschauung ausgewählt und versammelt die Gäste nach dem Vespergottesdienst um den Tisch.

Drei Pfarrdechanten in Corvey: Monsignore Andreas Kurte (links), Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek und Pastor Ludger Eilebrecht (rechts) im Gespräch mit Professor Hedwig Röckelein.

Aus seiner jetzigen Wirkungsstätte in Körbecke am Möhnesee ist der frühere Pfarrdechant Ludger Eilebrecht für diesen besonderen Abend nach Corvey gekommen. Er kennt sich mit dem Reliquienschatz des Klosters ebenso aus wie Domkapitular Andreas Kurte. Der Geistliche war vor Ludger Eilebrecht Pfarrdechant in Höxter gewesen (2003 bis 2008), ist heute Chef des pastoralen Raums Brakeler Land und leitete jetzt aus enger Verbundenheit zu Corvey den abendlichen Vespergottesdienst an Allerheiligen zum Abschluss des Jubiläumsjahres.

Reliquien aus Paderborn zurückgeführt

In seiner Zeit als Leiter der Zentralabteilung Pastorales Personal im Erzbischöflichen Generalvikariat in Paderborn hatte Monsignore Kurte 2018 im Auftrag des Domkapitels 44 Reliquiensäckchen aus dem Paderborner Domschatz nach Corvey zurückgegeben. „Durch diese Rückführung konnte der barocke Corveyer Reliquienbestand im Wesentlichen wieder zusammengeführt werden“, sagt er.

Den Schatz zu sichten und für die Nachwelt zu erhalten – mit dieser Anregung beschloss der Geistliche eine Publikation über die Corveyer Reliquienverehrung im Rahmen des Jahrbuchs für mitteldeutsche Kirchen- und Ordensgeschichte 2018. Professorin Röckelein empfiehlt in der Gesprächsrunde am Allerheiligen-Abend ebenfalls eine Bestandsaufnahme, Zustandsbeschreibung und Überlegung, was sich in der Öffentlichkeit wie zeigen lässt. Professor Dr. Christoph Stiegemann, Leiter des wissenschaftlichen Kompetenzteams der Kirchengemeinde Corvey, stuft diese Überlegungen als ein großes Projekt ein, das sich lohne, in Angriff zu nehmen. Der barocke Reliquienschrein im Museum biete mit seinen Gefachen Möglichkeiten für eine würdige Präsentation.

In Fragen der Einordnung und konservatorischer Erfordernisse seien Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen bis hin zur Textilkunde gefragt, so Christoph Stiegemann. Textilfachleute deshalb, weil viele Reliquien in Stoff eingewickelt sind. Diese Umhüllungen lassen über ihr eigenes Alter darauf schließen, wann die Reliquie an einen Verehrungsort gekommen ist. Auskunft geben auch die Cedulae (erklärende Beschriftungen) beziehungsweise Authentiken zu den Reliquien. Im Falle der Adalhard-Reliquie stammt die Cedula aus dem zehnten Jahrhundert. Der erste Abt hat übrigens am 25. September, dem Gründungsdatum Corveys, inzwischen einen Platz im liturgischen Kalender des Erzbistums.

Reliquien der Heiligen Vitus (rechts) und Justinus.


Beckenknochen des Erzmärtyrers St. Stephanus (links) und der heiligen Liuttrud.

Partikel der Vitus-Reliquie waren stark nachgefragt

Zurück zu den Reliquien: Die nach der Vesper gezeigten Beckenknochen des heiligen Stephanus und der heiligen Liuttrud zeigen ebenso wie der Armknochen des heiligen Vitus, dass immer mal Stücke abgeschabt wurden. Den Grund erläutert Hedwig Röckelein: Man hat Teile an andere Klöster oder Kirchen weitergegeben. „In den Archivalien haben sich bis in die allerjüngste Zeit Anfragen nach Partikeln des heiligen Vitus gefunden.“ Der Schutzpatron hat um das Jahr 304 im jugendlichen Alter wegen seines Glaubens den Tod gefunden. Noch jünger war Justinus, dessen Reliquie zum Corveyer Schatz gehört. Er wurde im vierten Jahrhundert im Alter von neun Jahren hingerichtet. Ein ihm gewidmeter Schrein steht auf dem südlichen Seitenaltar der Corveyer Klosterkirche.

In der Benediktuskapelle im Osten des Chores bewahrt die Kirchengemeinde das Haupt des heiligen Ansgar auf. Es ist in ein modernes Reliquiar gefasst. Hedwig Röckelein öffnet es vor den Augen der Gäste und zeigt ihnen auch die Beschriftung aus der Barockzeit. Pfarrdechant Dr. Hans-Bernd Krismanek richtet das Augenmerk bei dem anregenden Gedankenaustausch zum Reliquienkult auch auf die Bedeutung des Allerheiligenfestes: Der Gedenktag bringe „die endgültige Zukunft menschlichen Lebens bei Gott“ ins Bewusstsein. Das tun auch die Reliquien. Sie werden bei der Anrufung von Heiligen mit der Bitte um Fürsprache bei Gott als Stellvertreter dieser besonderen Glaubenszeugen empfunden.

Mönche holten hochwertige Reliquien in ihr Haus

Natürlich sei das Vertrauen in die Echtheit sterblicher Überreste von Heiligen eine Frage des Glaubens – „jetzt wie auch schon im 9. Jahrhundert“, sagt Hedwig Röckelein im Verlauf der Gesprächsrunde. Die Wissenschaftlerin gibt aber zu bedenken, dass die Menschen im Mittelalter angesichts der Wundertätigkeit der Heiligen große Hoffnungen in die Reliquienverehrung gesetzt haben. „Nach Corvey sind Bauern gekommen, deren Kinder krank waren und die sich keinen Arzt leisten konnten. Sie hofften auf die Heiligen.“ Oft sei es auch geglückt.

Die Überreste des heiligen Martin waren in den Prozessionen zum Vitusfest im Mittelalter dabei.


Diese Adalhard-Reliquie ist neben der Reliquie des heiligen Mafrtin von Tours in einer Vitirne in der Abteikirche ausgestellt.

Diese große Hoffnung nährten die Corveyer Mönche von Beginn ihres Wirkens an: „Sie unternahmen im Mittelalter große Anstrengungen, möglichst viele und hochwertige Reliquien in ihr Haus zu holen“, berichtet Hedwig Röckelein in ihrer Ansprache im Rahmen der Vesper. Plastisch vermittelt sie den Gästen eine Vorstellung von der Reliquienverehrung im mittelalterlichen Corvey, indem sie eine große Prozession zum Vitusfest am 15. Juni in ihrer Imposanz erläutert. In 21 Schreinen und Monstranzen trugen die Mönche die Überreste von Heiligen mit sich. Den Anfang machten die Gebeine des Corveyer Patrons Stephanus, die Kaiser Ludwig dem Weserkloster als Gründungsgabe aus dem Aachener Schatz überlassen hatte, sowie Überreste des weiteren Patrons Mercurius und des Ordensgründers Benedikt von Nursia. Weit vorne dabei in der Prozession waren auch die heute in der Abteikirche ausgestellten Armknochen des heiligen Martin und des Gründungsabtes Adalhard. Den silbernen Schrein für St. Vitus soll Abt Warin unmittelbar nach Ankunft der Gebeine 836 in Auftrag gegeben haben.

Einer der umfangreichsten Schätze des Reiches

Am Ende des Mittelalters, so Hedwig Röckelein, dürfte Corvey „einen der umfangreichsten klösterlichen Reliquienschätze des Reiches besessen haben“. Was aus ihm geworden ist, hat das Zeug zu einem spannenden Krimi. Denn nicht der lutherische Protestantismus, sondern der Dreißigjährige Krieg habe beinahe zum Totalverlust des Reliquienschatzes geführt. Wie, das erfuhren die Gäste der Allerheiligen-Vesper ebenfalls: „In Erwartung marodierender Söldner hatte man einen Teil der Reliquien versteckt und glaubte den Vitusschrein hinter den Mauern von Höxter sicher“, erläutert Professorin Röckelein. „Doch er wurde dort das Opfer von Plünderern und zwar nicht – wie befürchtet – der protestantischen Truppen des hessischen Landgrafen, sondern der der katholischen Liga.“ Die war im April 1634 zur Entsatzung der protestantischen Stadt angerückt. „Die Marodeure interessierten sich nicht für die Knochen der Heiligen, sondern für die wertvollen Behälter aus Silber und Gold sowie die Edelsteine, die sich zu Geld machen ließen.“

Das Haupt des heiligen Ansgar ist in einem modernen Reliquiar aufbewahrt. Professorin Dr. Hediwg Röckelein öffnete das Reliquiar.

Einige Reliquien seien nach Ende des Krieges in den Corveyer Verstecken wieder aufgetaucht, so Hedwig Röckelein. Dazu gehörten das an dem besonderen Allerheiligenabend ausgestellte vermeintliche Schulterblatt („scapula”), in Wirklichkeit  Beckenknochen des heiligen Stephanus, die ebenfalls zu sehende Beckenhälfte der heiligen Liuttrud, die Elle des heiligen Vitus und der Langknochen des hl. Justinus.

Um die Wiederbeschaffung und Erneuerung der verlorengegangenen Reliquienschätze bemühten sich die Mönche nach dem Dreißigjährigen Krieg sofort. „Systematisch ging der Münsteraner Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen, der von 1661 bis 1678 in Corvey als Administrator eingesetzt war, die Erneuerung des Reliquienschatzes an.“ Anfang des 18. Jahrhunderts sei das Heiltum in etwa auf seinen früheren Umfang angewachsen. „Im Schatz fanden sich nun noch weit mehr Heilige aus dem Frühmittelalter als ursprünglich“, sagt Hedwig Röckelein.

Prof. Dr. Hedwig Röckelein gewährte aufschlussreiche Einblicke in den Corveyer Reliquienschatz.

Ansprache zum Nachlesen dokumentiert

Mit ihren Erläuterungen und der Reliquienschau endet ein für Corvey besonderer Festkreis. Hans-Hermann Jansen und Sängerinnen und Sänger der Gregorianik-Schola unterstreichen mit der musikalischen Gestaltung die besondere Würde und Atmosphäre dieses Vespergottesdienstes. Pfarrdechant Krismanek dankt allen, die das Jubiläumsjahr in Corvey und sein hochkarätiges Programm mitgestaltet haben. Eine 144-Seelen-Gemeinde hat es geschafft, Corvey in seiner Bedeutung als Weltdenkmal und Glaubensort neu zu erschließen und große, strahlkräftige Akzente zu setzen. Angefangen vom Besuch des Bundespräsidenten und beschlossen mit dem ARD-Fernsehgottesdienst hat die Gemeinde Maßstäbe gesetzt. Das erfüllt den Pfarrdechanten zu Recht mit großer Freude. Beim abschließenden Vespergottesdienst konnte er diese Freude im Geist der spirituellen Aura Corveys mit seinen beiden Vorgängern Andreas Kurte und Ludger Eilebrecht und vielen Weggefährten des Jubiläumsjahres teilen.

Text: Sabine Robrecht

Lesen Sie hier die Ansprache von Prof. Dr. Hedwig Röckelein.