Jubiläum

1200 Jahre Corvey – wann kann denn nun gefeiert werden?

By 21. Juli 2021März 6th, 2024No Comments

„Corvey und die 1200-Jahrfeier im Stadtgebiet von Höxter: Wann kann denn nun eigentlich gefeiert werden?“ Dieser interessanten Frage geht Stadtarchivar Michael Koch in einem Beitrag nach, den der Heimat- und Verkehrsverein Höxter in der aktuellen Ausgabe seines viermal jährlich erscheinenden Magazins veröffentlicht hat.  Wurde das Kloster 822 oder 823 gegründet? Anhand der Abfolge der Ereignisse und deren Gewichtung erläutert der Corvey-Kenner wichtige Daten, die diese Frage beantworten und die die Kirchengemeinde veranlasst haben, das Jubiläum von September 2022 bis Herbst 2023 zu feiern. Wir freuen uns sehr, den Beitrag an dieser Stelle veröffentlichen zu dürfen.

Von Michael Koch, Stadtarchiv Höxter

Ein großes Jubiläum steht vor der Tür: „1200 Jahre Kloster Corvey“! Anlass zum Feiern gibt dessen Gründung vor 1200 Jahren. Das geht natürlich auch die Ortschaften im Stadtgebiet Höxter und viele weitere Orte etwas an, deren Ortsname in der für norddeutsche Verhältnisse außerordentlich früh einsetzenden Corveyer Schriftüberlieferung zum ersten Mal erwähnt wird.

Bevor ich mich der Frage zuwende, warum und wann genau gefeiert werden kann, möchte ich einen näheren Blick auf den Corveyer Jubilar werfen. Die in den Jahren 822 und 823 gegründete Reichsabtei Corvey spielte eine entscheidende Rolle bei der Unterwerfung der Sachsen und ihrer Integration in das Frankenreich und zugleich bei der Christianisierung Nord- und Osteuropas. Das Benediktinerkloster förderte Bildung und Wissenschaft, Kunst und Kultur. Von dieser großen Zeit zeugt heute noch das Westwerk als außergewöhnliches, weltweit einzigartiges Bauwerk, das Corvey zusammen mit dem mittelalterlichen Klosterbezirk als Bodendenkmal den Rang einer UNESCO-Weltkulturerbestätte eingebracht hat. Das ist aber nicht alles, was man über Corvey wissen sollte.

Titelblatt der Sonderausgabe der Heimatzeitschrift Niedersachsen zum Jubiläum 1922. Vorlage/Repro: Stadtarchiv Höxter

Von seinem Selbstverständnis her war die Reichsabtei nämlich ein vom Adel gelenktes Fürstentum in der Tradition des legendären Karl dem Großen, dem fränkischen Erneuerer des römischen Kaisertums und „Vater Europas“. Die Benediktinermönche entstammten überwiegend Adelsfamilien und sahen sich selbst als Stiftsherren. Die Äbte entstammten ausschließlich Adelsfamilien und verstanden sich als Fürsten im Heiligen Römischen Reich. Am Ende des Alten Reichs bzw. in der Umbruchszeit um 1800 wurde zunächst das Mönchskloster in ein Fürstbistum verwandelt, dann verlor Corvey seine staatliche Eigenständigkeit, bis es schließlich 1815 in die Provinz Westfalen des Königreichs Preußen eingegliedert wurde. Seit den 1820er Jahren entstand aus den Überresten des ehemaligen Fürstentums die Standesherrschaft Corvey der Herzöge von Ratibor und Fürsten zu Corvey. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor das Herzogliche Haus die Adelsvorrechte und den Herrschertitel und seine Angehörigen wurden in der bürgerlich-demokratischen Weimarer Republik Bürger unter Bürgern. Dieser bürgerlichen Tradition ist die Bundesrepublik Deutschland bis heute verpflichtet.

Ohne Zweifel haben wir uns heute von unserem Selbstverständnis her ziemlich weit vom adligen Benediktinerkloster und einer Fürst- und Reichsabtei entfernt. Vom Kloster zeugen nur noch materielle und immaterielle Überreste. Doch zugleich mit seinem Verschwinden entstand auch etwas Neues: die „Corvey-Forschung“. Sie wurde initiiert vor allem durch Paul Wigand, der in Höxter und Corvey als Jurist, Archivar und Historiker tätig war, propagiert und betrieben durch den von Wigand und seine Mitstreiter 1824 gegründeten Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens und die 1896 aus dem Verein ausgegründete Historische Kommission für Westfalen. Die Gegenwart fordert unsere Aufmerksamkeit, was die Zukunft bringt, wissen wir nicht, und somit suchen wir Anerkennung und Bestätigung in unserer Vergangenheit, der Vergangenheit unseres gegenwärtigen Gemeinwesens. Indem wir uns dem vergangenen Kloster Corvey zuwenden, wird das heutige Corvey zum Gedenk- und Geschichtsort, und auf diesen Grundlagen kann eine neue „Corvey-Tradition“ erwachsen.

Wenden wir uns nun der Frage der Ortsjubiläen zu. Meiner Meinung nach ist bei jedem Ortsjubiläum das Entscheidende, dass alle Angehörigen einer Gemeinschaft oder Gesellschaft oder, aus praktischen Erwägungen heraus, zu diesem Zweck ernannte Vertreter zusammenkommen. Diese sichten die Fakten und fällen ihre Entscheidung, ob, wann und wie die Feier ausgerichtet werden soll. Zuletzt wurde mir häufiger die Frage gestellt: Wurde das Kloster Corvey im Jahr 822 oder 823 gegründet? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich aus der Abfolge der Ereignisse sowie deren Gewichtung.

Heiliger Vitus vor dem Corveyer Westwerk (1746). Foto: Michael Koch

Wir wissen aus dem „Bericht von der Überführung der Reliquien des hl. Vitus“ von St. Denis bei Paris an die Weser, verfasst nur wenige Jahrzehnte nach der Ankunft der Reliquien am 13. Juni 836, dass die Mönche im Jahr 822 begonnen haben, an der Weser ein neues Kloster zu erbauen. Vorangegangen war ein Gründungsversuch 815/16 an einem Ort namens Hethis oder Hetha, dessen Lage im Solling nur vermutet werden kann. Die Grundsteinlegung für das Kloster im Wesertal fand am 6. August 822 statt und der Umzug der übrigen Mönche erfolgte am 25./26. September desselben Jahres. Seine Stiftungsurkunden erlangte das neue Kloster am 27. Juli 823 aus der Hand Kaiser Ludwigs des Frommen, dem Sohn Karls des Großen. Die erste Urkunde stellte Corvey auf eine Stufe mit den großen staatstragenden Abteien im Frankenreich, zu denen auch das nordfranzösische Mutterkloster Corbie gehörte, und mit der zweiten wurde dem Kloster der Siedlungsraum Höxter übereignet. Beide Jahre, 822 und 823, kommen gleichermaßen als Gründungsjahr in Betracht, je nachdem, ob der Baubeginn oder der Rechtsakt für die Gründungsausstattung in den Vordergrund gestellt werden.

Auf der Grundlage des bereits genannten Überführungsberichts aus der Mitte oder zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts hat eine Planungsgruppe des katholischen Pastoralverbundes Corvey, zu dessen Einzugsgebiet die St. Stephanus-und-Vitus-Kirchengemeinde Corvey heute gehört, entschieden: Das 1200-jährige Jubiläum soll im Zeitraum vom 25. September 2022 etwa ein Jahr lang, das heißt bis in den Herbst 2023 hinein, mit einer Reihe von Aktivitäten feierlich begangen werden. Maßgeblich für die Entscheidung war die Ankunft der Benediktinermönche im Wesertal im August/September 822. Und da auch das Folgejahr 823 von zentraler Bedeutung für Corvey ist und zudem die NRW-Landesgartenschau von Frühling bis Herbst 2023 in Höxter ausgerichtet wird, wurde entschieden, die allgemeine Aufmerksamkeit zu nutzen und die Feierlichkeiten über die Jahresgrenze hinweg auszudehnen. Nicht während einer ganzen Dekade von Jahren, wie zuletzt beim Luther- und Reformationsjubiläum, aber immerhin in zwei aufeinander folgenden Jahren sollen „1200 Jahre Kloster Corvey“ begangen werden.

Das stellt etwas Neues dar. Alle runden Jubiläumsfeiern in Erinnerung an das ehemalige Kloster wurden bisher immer nur auf das Jahr 822 bezogen und in dem entsprechenden Jubiläumsjahr begangen. So fanden die 1100-Jahrfeier 1922 und die 1150-Jahrfeier 1972 statt. Und dabei ist es gewiss kein Zufall, dass ausgerechnet in der Weimarer Republik das Corvey-Jubiläum zum ersten Mal groß und in aller Öffentlichkeit gefeiert wurde.

In einem engen Zusammenhang mit der ersten Frage nach dem Corveyer Gründungsjahr steht die nächste Frage, die an mich herangetragen wurde: Wann wurde mein eigener Wohnort erstmalig in der frühen Schriftüberlieferung von Kloster Corvey genannt und wann können wir demnach zum bestmöglichen Zeitpunkt unser Ortsjubiläum feiern? Diese beiden Fragen berühren Menschen im Stadtgebiet von Höxter, die sich mit der Geschichte ihrer Heimat und ihres Wohnortes auseinandersetzen. Das gilt aber ebenso auch für Amelunxen im benachbarten Stadtgebiet von Beverungen oder für Meppen im Emsland, weil die herrscherliche Weisungskraft der Äbte von Kloster Corvey im Mittelalter und in der frühen Neuzeit bis in weite Bereiche Norddeutschlands und sogar in den Rhein- und Moselraum hinein reichte.

Heiliger Vitus an der Wetterfahne vom Dach des Rathauses (1764).                                         Foto: Michael Koch

Heiliger Vitus über einem Portal am Treppenturm des Rathauses (1613). Foto: Michael Koch

Höxter selbst wird unmittelbar in einer der beiden Stiftungsurkunden von 823 genannt, in der dem Kloster Corvey die Siedlung und die Gemarkung Höxter („Hucxori“) mit allem Zubehör übertragen wurde. Trotz der Ersterwähnung 823 wurde das Jubiläum „1175 Jahre Höxter“ übrigens unter Berufung auf die Klostergründung in das Jahr 1997 gelegt. Demgegenüber bekennt sich die Stadtverwaltung aktuell zum Jahr 823 und plant Feierlichkeiten für das Jahr 2023. Fast alle heute bestehenden Ortschaften im Stadtgebiet werden erstmals namentlich genannt entweder in der „Herforder Gründungsnotiz“, die unmittelbar aus der Gründungszeit und in späteren Fassungen erhalten ist, oder in den „Schenkungsregistern“ des Klosters Corvey aus dem 9. bis 11. Jahrhundert, die erst in einer Abschrift des 15. Jahrhunderts überliefert sind. Als einziger Ort erscheint Fürstenau nicht in der frühen Corveyer Schriftüberlieferung, denn er wurde von den Äbten erst in der zweiten Hälfte des 12. oder zu Beginn des 13. Jahrhunderts gegründet und ist erstmals 1241 namentlich genannt.

In der „Herforder Gründungsnotiz“ werden diejenigen Orte angesprochen, die direkt an die Gemarkung Höxter angrenzen: Im Norden Brenkhausen und Albaxen, im Westen Lütmarsen, im Süden Godelheim und Maygadessen, während im Osten die Weser die Gemarkungsgrenze bildete. Alle genannten Orte verbindet, dass sie bereits vor der Gründung von Kloster Corvey existierten. Die „Herforder Gründungsnotiz“ liefert keine Jahreszahl, nimmt aber inhaltlich unmittelbar Bezug auf die Gemarkung Höxter und ihre Übertragung an Corvey 823. Zum Feiern ergeben sich zwei Gelegenheiten: Entweder wird das Ortsjubiläum der vier bzw. fünf genannten Ortschaften auf das Jahr 822 bezogen, weil die Klostergründung als das entscheidende Ereignis für die Ortsgemeinde betrachtet wird, oder auf das Jahr 823, weil dies, zumindest im übertragenen Sinne, das Jahr der Ersterwähnung des Ortes ist.

Blick auf Höxter und Corvey von Westen. Foto: Michael Koch.

Die Ortschaften Lüchtringen, Stahle, Bödexen, Ovenhausen, Bosseborn, Ottbergen und Bruchhausen erscheinen in den „Schenkungsregistern“. Diese wurden seit dem 18. Jahrhundert bereits mehrfach in Buchform herausgegeben und kommentiert, wobei die Schenkungseinträge in den älteren Ausgaben teilweise recht eigenwillig zeitlich eingeordnet werden. In der aktuell maßgeblichen Ausgabe von Honselmann 1982 und Schütte 1992 wird zurückhaltend „822 bis 826“ oder „zwischen 826 und 876“ datiert, während die Zuordnung zu einem bestimmten Jahr verworfen wird. Auch diese Ortschaften existierten, mit Ausnahme von Bruchhausen, mit Sicherheit bereits vor der Klostergründung.

In Bruchhausen wurde 1969 das Schützenfest gemeinsam mit dem 1000-jährigen Ortsjubiläum gefeiert. Dabei bezog man sich allerdings auf das Jahr 963. In Lüchtringen bezog man sich beim 1150-jährigen Ortsjubiläum 2004 sowie bereits 1954 zum 1100-Jährigen auf das Jahr 854, in Ottbergen zur nachgeholten 1100-Jahrfeier 1980 auf das Jahr 848 und in Stahle und Ovenhausen 1975 auf das Jahr 825. Die Jahreszahlen der angeblichen Ersterwähnung kommen der Wahrheit bestenfalls nahe, sind aber, da sie aus älteren, überholten Ausgaben der „Schenkungsregister“ stammen, nicht zuverlässig. Dasselbe gilt auch für Bödexen und Bosseborn. Auch bei den zuletzt genannten Orten gilt: Entweder wird das Ortsjubiläum der vier bzw. fünf genannten Ortschaften auf das Jahr 822 bezogen, weil die Klostergründung als das entscheidende Ereignis für die Ortsgemeinde betrachtet wird, oder es wird Bezug genommen auf die älteste urkundlich gesicherte Jahreszahl. Was aber, zumal in Zweifelsfällen, die Lust am Feiern in einem anderen Jahr keineswegs verderben muss. Was in erster Linie zählt, ist das Miteinander vor Ort!

Für den Fall, dass jemand die historischen Ereignisse und die Überlieferung selber nachvollziehen möchte, wenden Sie sich an das Stadtarchiv Höxter, Westerbachstraße 45, 37671 Höxter, Tel. 05271-9631120 (Mo./Di.), E-Mail: m.koch@hoexter.de.